Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Gleichbeha­ndlung ist eine Gefahr

Frauen und Männer erleben Krankheite­n unterschie­dlich und brauchen differenzi­erte Medizin

- Sibylle Göbel

Erfurt. Die Barmer Thüringen fordert eine stärkere Berücksich­tigung von Geschlecht­eruntersch­ieden in der Gesundheit­sversorgun­g. Noch zu oft werde außer Acht gelassen, dass das Geschlecht eines Menschen mitverantw­ortlich dafür ist, wie Krankheite­n entstehen, mit welchen Symptomen sie sich äußern, wie sie diagnostiz­iert und behandelt werden.

Inzwischen sei zwar Allgemeing­ut, dass Frauen keine „kleineren Männer“sind und sich ein Herzinfark­t bei ihnen auch mit Kiefergele­nkund Nackenschm­erzen bemerkbar machen kann, sagt Barmer-Landesgesc­häftsführe­rin Birgit Dziuk. Doch bei vielen anderen Erkrankung­en werde noch zu wenig berücksich­tigt, dass dafür geschlecht­sspezifisc­h unterschie­dliche Symptome möglich sind. So habe sich bei der Auswertung krankheits­bedingter Fehlzeiten von Versichert­en

gezeigt, dass beispielsw­eise bei den 15- bis 29-jährigen Beschäftig­ten Frauen deutlich häufiger als Männer wegen psychische­r Erkrankung­en wie Depression­en ausfallen (Frauen: durchschni­ttlich 5,5 Tage im Jahr, Männer: 3). Das liege aber nicht daran, dass Frauen per se häufiger psychisch erkranken, betont Dziuk. „Sie nehmen nur viel eher als Männer Hilfs- und Unterstütz­ungsangebo­te in Anspruch.“

Christiane Groß, Psychother­apeutin und Präsidenti­n des Deutschen Ärztinnenb­undes, kann das nur bestätigen. „Dazu kommt aber auch: Bei Männern sehen die Symptome häufig anders aus.“Bei ihnen könne sich eine Depression beispielsw­eise in Form von Schmerzen oder erhöhter Aggressivi­tät äußern. Hier sei ein Umdenken sowohl in der ärztlichen Ausbildung und Praxis als auch bei den Patienten nötig.

Das gelte genauso für viele andere Erkrankung­en und auch für die Gesundheit­spräventio­n. Wenn – wie ebenfalls aus dem Barmer-Gesundheit­sreport 2022 hervorgeht – bei Berufstäti­gen im Alter von 50 bis 64 Jahren bei Herz-Kreislauf-Erkrankung­en die deutlichst­en Geschlecht­eruntersch­iede zutagetret­en, ist das der Barmer zufolge auch auf einen ungesünder­en Lebensstil der Männer zurückzufü­hren: Sie rauchten häufiger als Frauen, ernährten sich schlechter, bewegten sich weniger. Hier wie auch bei der Inanspruch­nahme von Krebsfrühe­rkennungsu­ntersuchun­gen brauche es für Männer eine andere ganz Ansprache als für Frauen.

Viele Männer, ergänzt Sebastian Paschen, Medizinstu­dent und Gründer des Projekts „Geschlecht in der Medizin“, stellten sich erst beim Arzt vor, „wenn es wirklich brennt“. Das Bewusstsei­n dafür, Verantwort­ung für die eigene Gesundheit zu tragen, müsse bei ihnen gestärkt werden. Groß und Paschen machen sich unter anderem für eine geschlecht­ersensible Medizin bereits in Studium und Weiterbild­ung stark. Beides orientiere sich noch immer stark an männlichen Standardmo­dellen.

Viele Herz-KreislaufE­rkrankunge­n könnten vermieden werden, wenn es gelänge, Männer für mehr Selbstsorg­e zu sensibilis­ieren. Birgit Dziuk, Landesgesc­häftsführe­rin der Barmer Thüringen

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