Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Chefarzt wird Opfer von Telefonbetrügern
Nicht nur einsame Senioren sind Ziel von Schockanrufen und Enkeltricks. Es kann jeden treffen
Erfurt. „Papi, hilf, ich habe eine Frau totgefahren – und deren Kind ist auch schwer verletzt.“In einer Sekunde brach die heile Welt von Joachim Schramm (Name geändert) in sich zusammen. Wie im Zeitraffer rasten dem Chefarzt aus Jena Bilder durch den Kopf: von seiner Tochter, deren Stimme er sofort zu erkennen glaubte, von seinen Enkeln, dem Schwiegersohn, von einem Unfall einer Bekannten. Die Zukunft seiner Tochter, die gerade erst ein neues Geschäft eröffnet hatte, viele Pläne hatte, war zerstört. „Papi, hilf.“
Dann übernahm eine angebliche Polizistin den Hörer, schockte den über 70-Jährigen mit weiteren Details wie Fahrerflucht und unterlassener Hilfeleistung, der Haftrichter sei schon unterwegs. Es sah nicht gut aus für die Tochter. „Unser Leben hat sich schlagartig geändert“, so Joachim Schramm.
Doch es gab noch einen Hoffnungsschimmer – zufällig war eine Staatsanwältin bei der Polizei, die sich in das Telefonat einschaltete: „Gegen Zahlung einer Kaution in Höhe von 78.500 Euro könnte die Tochter bis zum Prozess freikommen. Doch so viel Geld haben wir gar nicht.“Das scherte die Staatsanwältin nicht: Die Tochter habe einen Menschen totgefahren, dafür müsse die Familie jetzt geradestehen.
Und Joachim Schramm fährt zur Bank, während seine schockierte Frau das Telefon übernehmen muss, um mit der angeblichen Polizei in Kontakt zu bleiben.
Der gestandene Chefarzt, der auf Intensivstationen oder als Notfallmediziner in heikelsten Situationen in hunderten Fällen lebenswichtige Entscheidungen getroffen hatte, war auf einen sogenannten Schockanruf hereingefallen. „Meist sind es tatsächlich ältere, oft einsame Menschen, die von Telefonbetrügern mit den abenteuerlichsten Geschichten
um viel Geld gebracht werden“, erklärt Patrick Martin von der Thüringer Landespolizei. Aber dieses Beispiel zeigt: Es kann jeden treffen. „Die Täter setzen ihre Opfer unter so hohen emotionalen Druck, dass sie keinen klaren Gedanken fassen können“, so Martin. „Sie finden keine Kraft, um einfach auszulegen.“
So auch nicht Joachim Schramm. Er fährt zur Bank, will alles Geld abheben, was er hat. Die Erpresser hören über sein Handy mit. Doch die Bankangestellte, Schramms langjährige Beraterin, wird misstrauisch, übergibt ihm unter fadenscheinigen Gründen „nur“20.000 Euro. Die Geldübergabe soll in Gera stattfinden, Schramm fährt los, am Handy immer die Erpresser. Sobald er auflegt rufen sie wieder an. Ebenso bei seiner Frau, die mittlerweile per
Festnetz und Handy mit den Betrügern telefonieren muss. „Das gehört zum Konzept“, so Patrick Martin, „die Opfer werden nicht mehr losgelassen.“Frau Schramm wird langsam misstrauisch, fragt nach Details
und bekommt nur ausweichende Antworten, doch zu mehr reicht die Kraft nicht. Die Geldübergabe findet vor einem Notariat statt. „Aber ein Notar nimmt niemals Geld für irgendwelche Geschäfte entgegen“,
versichert Eric Rauschenbach, der Geschäftsführer der Notarkammer Thüringen.
Schramm übergibt das Geld, der Mann verschwindet um die Ecke, kommt zurück, fordert noch mehr Geld. „Es geht um ihre Tochter!“
Schramm fährt wieder los, doch dann wacht er auf, bittet an einer Tankstelle um ein Handy – an seinem lauern immer noch die Erpresser. Er ruft die Polizei an, die kommt mit Blaulicht. Doch die Verbindung ist gekappt, die Täter melden sich nicht mehr. Zeitgleich, nach über zwei Stunden, melden sich die Erpresser auch bei Regine Schramm ab. Es sei alles gut gelaufen.
Dann endlich ruft Schramm seine Tochter an. Sie ist zu Hause, ahnungslos, gesund, spielt mit den Kindern. „Papi, was ist denn los?“