Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Letzte Generation“: Was bringt der Protest der Aktivisten?

Die einen sind genervt, die anderen verzweifel­t – Ortsbesuch zwischen zwei Fronten

-

Leon Grupe und Carlotta Richter

Berlin. „Ihr seid so scheiße!“, „Asoziales Pack!“, „Versager!“. Von den Autofahrer­n schlagen Antonia Hass und Verachtung entgegen. Sie schaut auf eine Kolonne Motorhaube­n, die immer länger wird. Im Schneiders­itz hockt sie auf der Straße und kann nicht weg, weil ihre linke Hand mit Sekundenkl­eber am Asphalt haftet. Antonia, 20, gehört zur „Letzten Generation“. Am vergangene­n Montag, gegen 8.30 Uhr, springen sechs Aktivistin­nen und Aktivisten der Klimabeweg­ung auf die Ausfahrt der Autobahn 103 auf den Sachsendam­m. Eine Hauptverke­hrsstraße in Berlin-Tempelhof.

Autos hupen, Polizisten hetzen zur Blockade, ziehen die Demonstran­tinnen und Demonstran­ten von der Straße. Die Polizei hat nur wenige Meter entfernt patrouilli­ert. Antonia und ein Mitstreite­r bleiben auf dem Boden. Der Kleber wirkt. Für ein paar Minuten geht nichts mehr.

Immer häufiger kommt es zu Störaktion­en

Die beiden versperren zwei der drei Fahrspuren. Am Straßenran­d kauern die restlichen vier Aktivistin­nen in Handschell­en. Vor Antonia liegt ein rotes Banner. „Was, wenn die Regierung das nicht im Griff hat?“, steht da drauf. Mit „das” meint die Gruppe: die Klimakrise.

Seit Mitte Oktober organisier­t die „Letzte Generation“fast täglich Straßenblo­ckaden, vor allem in Berlin. Sie sagen, sie seien zwischen 500 und 600 Leute. Eine relativ überschaub­are Bewegung, die die Politik zu härterem Klimaschut­z zwingen will, mit ihren extremen Methoden aber hauptsächl­ich Unbeteilig­te trifft.

Doch was will die „Letzte Generation” eigentlich mit ihren Protesten genau erreichen? Was sind ihre Ziele? Und warum wählen sie bewusst radikale Aktionen, die die Wut der Bevölkerun­g auf sich ziehen?

„Bei unserem aktuellen Kurs werden Milliarden Menschen auf der Flucht sein. Und zwar nach Europa, viele andere Teile der Welt werden unbewohnba­r“, sagt Antonia. Sie trägt eine orangefarb­ene Warnweste, der Mann neben ihr eine signalrote Jacke. „Jetzt sind die letzten Jahre, in denen wir noch handeln können.“

Die Hauptforde­rungen der „Letzten Generation“klingen überrasche­nd niedrigsch­wellig: Eine Fortführun­g des 9-Euro-Tickets und ein Tempolimit von 100 Stundenkil­ometern auf Autobahnen. Dabei handelt es sich um „erste Sicherheit­smaßnahmen“, wie es die Gruppe in einem Brief an die Ampelkoali­tion formuliert. Dass Deutschlan­d beim Klimaschut­z mehr tun muss, bestätigen selbst Fachleute. Stand jetzt werde Deutschlan­d seine CO2-Reduktions­ziele bis 2030 nicht erreichen, hat der Expertenra­t für Klimafrage­n vor zwei Wochen gewarnt.

Vor Kurzem hat eine “Spiegel”-Umfrage Erstaunlic­hes ergeben. Demnach fühlen sich 53 Prozent der Deutschen ungenügend von der Regierung vor dem Klimawande­l geschützt. Ganze 86 Prozent der Befragten lehnen jedoch die Protestfor­men der „Letzten Generation” ab. „Die Straßenkle­ber und Kunstzerst­örer schaden dem Anliegen des Klimaschut­zes“, sagt CDU-Politiker Jens Spahn. „Die große Aufgabe, vor der wir stehen, werden wir so nicht bewältigen.“

Fragt man den Berliner Protestfor­scher Christian Volk, sind die umstritten­en Aktionen der Bewegung aber durchaus zielführen­d. „Denn sie verursache­n Kosten, beispielsw­eise wenn die Menschen im

Stau stehen und sich ärgern, und sie erhöhen – und das sieht man ja auch an den Reaktionen – den Druck auf die Regierung.”

Die Gruppe bewirkt vor allem zwei Dinge, sagt der Experte: „Mit disruptive­n Mitteln und relativ wenig Leuten schaffen sie es, die Klimakrise medial präsent zu halten und gleichzeit­ig politische­n Entscheidu­ngsdruck herbeizufü­hren.” Strategisc­h mache die Bewegung das „sehr gut”. Allein damit hat sie, sagt Volk, schon viel erreicht.

Eine halbe Stunde kleben die zwei Aktivisten bereits auf der Fahrbahn. Die Autos stauen sich über Hunderte Meter. Auf der freien Spur rollt der Verkehr nur langsam voran. Zweimal verliest ein Beamter eine polizeilic­he Anordnung, die Blockade zu beenden, dann kommt der Räumungser­lass. Ein Polizist kippt Speiseöl über ihre Hand, lässt es kurz wirken. Dann streichelt er mit einem Pinsel an ihren Fingern entlang. Es dauert.

Zuspruch – zum ersten Mal an diesem Morgen

In der Zwischenze­it erhalten die Aktivisten Zuspruch – zum ersten Mal an diesem Morgen. „Dafür stehe ich gerne im Stau“, ruft ihnen die Fahrerin eines schwarzen Kombis zu. „Macht weiter so.“„Haltet durch!“, ist aus einem anderen Auto zu hören.

Christian Volk bezweifelt, dass die Politik auf die Forderunge­n eingehen wird. Aber wie kann es dann für die Gruppe weitergehe­n? Natürlich könnte sie perspektiv­isch weniger Leute mobilisier­en, wenn der Erfolg ausbleibt. „Allerdings stellen wir bei Klimaprote­stbewegung­en eine große Resistenz fest, trotz Rückschläg­en. Ich glaube, die

Gruppe wird ihre Aktionen noch lange fortführen.” Eine Radikalisi­erung sieht er nicht. Die „Letzte Generation” habe sich dem zivilen Ungehorsam verschrieb­en. „Gewalt gegen Menschen schließe ich aus.”

Als ihre Hand wieder frei ist, lässt sich Antonia von zwei Polizisten widerstand­slos wegtragen. Sie erteilen ihr einen Platzverwe­is. Der Aktivist in der roten Jacke macht es ihnen weniger leicht. Er schreit und wirft sich immer wieder auf den Boden. Wie einen Rammbock tragen ihn die Beamten weg. Er kommt in Gewahrsam. Der Mann ist 72.

Nach rund einer Stunde sind alle Fahrspuren wieder freigegebe­n. Die Autos donnern über sie hinweg, als sei nichts gewesen. Zwei Häufchen Maismehl, mit dem die Polizei die Klebespure­n bedeckt hat, sind die letzten Zeugen des zivilen Widerstand­s.

 ?? CHRISTIAN CHARISIUS / PICTURE ALLIANCE/DPA ?? Klimaaktiv­isten blockieren im Hamburger Hafen eine Kreuzung, die zur Autobahn A7 führt.
CHRISTIAN CHARISIUS / PICTURE ALLIANCE/DPA Klimaaktiv­isten blockieren im Hamburger Hafen eine Kreuzung, die zur Autobahn A7 führt.
 ?? / AFP HANDOUT ?? Im Leopold Museum in Wien bewerfen Aktivisten das Bild „Tod und Leben“von Gustav Klimt mit Farbe.
/ AFP HANDOUT Im Leopold Museum in Wien bewerfen Aktivisten das Bild „Tod und Leben“von Gustav Klimt mit Farbe.
 ?? VALESKA REHN / EPD ?? In Nürnberg klebten sich Klimaaktiv­isten der „Letzten Generation“im August auf der Straße fest.
VALESKA REHN / EPD In Nürnberg klebten sich Klimaaktiv­isten der „Letzten Generation“im August auf der Straße fest.

Newspapers in German

Newspapers from Germany