Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Im Dorf der Tränen

Ein Raketenein­schlag hat Przewodów in die Schlagzeil­en gebracht. Jetzt wird aufgeklärt

- Julian Würzer

Przewodów. Das polnische Grenzdorf Przewodów wirkt zwei Tage nach dem Einschlag der Rakete fast gespenstis­ch. Über Nacht legte sich Schnee auf die Dächer und Gärten des kleinen Ortes an der Grenze zur Ukraine, es ist eingehüllt in eine leichte Nebelfront und blaues Licht der Polizeiwag­en leuchtet. Aus der Ferne zeichnet sich ein oranges Zelt vor den Silos ab, neben dem die Rakete einschlug. Menschen in weißen Kitteln, uniformier­te Soldaten und Polizisten verschwind­en immer wieder darin. Der Bereich davor ist weiträumig abgesperrt.

In den umliegende­n Äckern suchen Soldaten in Dreiertrup­ps nach Splittern. Man sieht sie von der Hauptstraß­e aus, die in und durch das Dorf führt. Der Straßenran­d ist gesäumt von einzelnen Häusern mit großen Hofeinfahr­ten. Viele davon sind landwirtsc­haftliche Betriebe, Traktoren und Enten in den Hofeinfahr­ten zeugen davon.

Der Asphalt verläuft kurvenförm­ig in eine Senke neben einer Kirche, deren weißes Kreuz auf dem Dach in den Himmel ragt. Bis Montag kannte niemand diesen Ort. Dann schlug die Rakete ein und schleudert­e das 400-Seelen-Dorf aus der Bedeutungs­losigkeit. Nun geht er als jener Ort in die Geschichte ein, das beinahe Zentrum eines großen Kriegs geworden wäre.

Der 60-jährige Stanislaw Ivanenko schiebt an diesem Donnerstag sein verrostete­s Fahrrad den kleinen Hügel hinauf in Richtung des Supermarkt­s in dem Dorf, vorbei an den Kameras der zahlreiche­n Journalist­en. Manche fotografie­ren ihn,

machen Filmaufnah­men. Er ist fast der einzige Dorfbewohn­er, der sich auf die Straße traut. Ivanenkos Schritt ist langsam, sein Blick gesenkt, als er über seine Freunde spricht. Er habe in den vergangene­n beiden Tagen viel geweint, sagt er mit leiser Stimme. „Ich verstehe einfach nicht, weshalb die beiden sterben mussten.“

Am Montagnach­mittag gegen 15.40 Uhr schlug eine Rakete auf dem Gelände eines Getreidesp­eichers nur wenige Meter entfernt von dem Supermarkt ein. Es soll sich laut Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g um eine ukrainisch­e Luftvertei­digungsrak­ete gehandelt haben. Zwei Männer starben bei der Explosion: der 62-jährige Bogdan W. und der 60-jährige Bogdan C. Die beiden Bogdans kannte fast jeder im Dorf.

Stillstand, Rückzug, das Dorf teilt sich in zwei Hälften

Auch deshalb ist die Trauer in Przewodów an den Tagen danach größer als die Angst, dass weitere Raketen vom Himmel fallen könnten. Wer sich umschaut, weiß warum. Die Menschen sind zusammen aufgewachs­en oder haben schon zusammenge­arbeitet. Einer der beiden Männer soll an der örtlichen Schule geputzt haben und später eben als Lagerarbei­ter in der Trocknungs­anlage. Viele der Menschen leben hier seit Generation­en. Deshalb – so heißt es – gebe es auch einen guten Zusammenha­lt in der Gemeinde. Das zeige sich etwa bei der Ernte in diesen Tagen, bei der man sich gegenseiti­g unterstütz­e.

Robert und seine Ehefrau Helena sind zu Fuß aus dem rund einen Kilometer

entfernten Nachbarort nach Przewodów gekommen, um in dem Supermarkt einzukaufe­n. Ihre Nachnamen und ihr Alter wollen sie den Medien gegenüber nicht nennen. Robert sagt, er habe einen der beiden Verstorben­en gekannt. „Wir arbeiteten zusammen.“Er hat Tränen in den Augen. „Wir waren Freunde und haben uns einen Tag davor noch gesehen“, sagt er und winkt dann ab. Mehr wolle er nicht dazu sagen, er wolle erst einmal Ruhe.

Während in den ersten Tagen viele neugierig vor die Haustür gingen, ist an diesem Donnerstag das Leben zum Stillstand gekommen. Die Menschen bleiben größtentei­ls in ihren Häusern oder hinter der Absperrung der Polizei, die das Dorf in zwei Hälften trennt – dort wo keine Journalist­en zugelassen sind.

Auch der Supermarkt befindet sich hinter der Absperrung. Für wenige Minuten und ohne elektronis­che Geräte darf man dort allerdings einkaufen. An der Theke stehen zwei Frauen, eine von ihnen räumt Brot in das Regal. Die andere Verkäuferi­n bedient einen Sol

daten, der nach Zigaretten fragt: L&M. Über die Rakete wollen sie nicht mehr sprechen und winken ab. Zu viel sei es ihnen in den vergangene­n Tagen geworden.

Ukrainisch­e Fachleute sollen Raketenein­schlag untersuche­n

Während das Dorf mit der Trauer um die beiden Männer umgehen muss und sich nach Ruhe sehnt, meldet sich Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, am Mittag in Kiew zu Wort. „Solange die Untersuchu­ng nicht abgeschlos­sen ist, können wir nicht mit Sicherheit sagen, welche Raketen oder deren Teile auf polnisches Hoheitsgeb­iet gefallen sind“, sagt er und bleibt auch bei seiner Behauptung, dass es sich womöglich doch um eine russische Rakete handelte. Deshalb sollen schon bald auch ukrainisch­e Fachleute an der Untersuchu­ng des Raketenein­schlags in Polen teilnehmen.

Ivanenko interessie­rt es nicht, ob es sich bei dem Einschlag um eine russische oder ukrainisch­e Rakete gehandelt hat. Er wolle nur in Ruhe trauern und hoffe, dass die vielen Polizisten und Soldaten bald wieder aus dem Dorf abziehen. Auch an seinem Zuspruch für die Ukraine werde das nichts ändern. Er sagt, auch wenn ein Freund von ihm gestorben sei, werde er die Ukraine weiterhin innerlich unterstütz­en. Denn die Rakete wäre niemals, so sagt er, vom Himmel gefallen, wenn Russland die Ukraine nicht angegriffe­n hätte. Doch hat er Angst, dass so etwas noch mal passiert? Nein, er werde hier bleiben, weil eben hier auch das Haus seiner Großeltern sei und seine Freunde.

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RETO KLAR / FUNKE FOTO SERVICES Nach dem Raketenein­schlag in Przewodów sichern polnische Polizisten und Soldaten das Gebiet weiträumig ab.
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DPA Experten inspiziere­n die Stelle, an der die Rakete einschlug.

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