Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Der Raum zwischen Auszeit und Aushalten
Der Anblick langer Warteschlangen ist in Erfurt ein seltener geworden. Aber es gibt auch andere Situationen mit Pause vom Alltag
Erfurt. Die Zeit totschlagen zu müssen ist eine Beschäftigung – oder besser Nicht-Beschäftigung –, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts massiv gewandelt hat. Nicht nur, in welcher Form man wartet, sondern auch worauf.
In Erfurt kann man Wartende nur noch an ausgesuchten Orten finden und erkennen. Am einfachsten lässt es sich an langen Schlangen festmachen, die sich vor Tür und Tor der Stadt auftun. Hier wie auch an anderer Stelle sind die Leute meistens allein unterwegs und schauen mangels einer analogen Begleitung eher in den digitalen, in dem sie ins Handy schauen und eher dort als mit anderen Anstehenden interagieren.
Früher mit Knetsch, heute mit Smartphone
Damit stirbt der typische „Knetsch“vor der Kaufhalle – und wenn er nur der Überbrückung bis zur Bückware der Kassiererin im HO diente – schon lange aus. Aber wo steht man heute überhaupt noch an?
An Kaufhallen muss man es heutzutage nicht mehr tun, wobei uns Corona im Jahr 2020 hier eines Besseren belehrt hat. Viel deutlicher zeigte sich das Phänomen der heute unüblich gewordenen Warteschlange
aber in langen Menschenketten, die einen der Schnelltest-Standorte ansteuerten, um eine Bescheinigung für die Arbeit oder den Besuch im Pflegeheim zu bekommen.
Zuletzt hatte man solche Szenarien in der Landeshauptstadt wohl zur Währungsunion 1990 sehen können, nach der sich etliche Menschen vor den Sparkassen ansammelten. Aber Warten geht auch anders. Ganz typisch in Erfurt vor allem
an Bus- und Straßenbahnhaltestellen. Hier sind es allerdings meistens kurze Minuten, die bis zur Ankunft des nötigen Fahrzeugs zu überbrücken sind. Hier unterscheidet sich, wer sich gern auf die Bank unter dem Haltestellendach setzt oder in der unruhigeren Variante eher außerhalb des Häuschen steht.
Wer längere Zeiten an Orten zubringt, die weder Start noch Ziel sind, hat mit sich auf intensivere Art
und Weise zu tun. So in der kleineren Form am Busbahnhof, der gerade abends einige Pendler auffangen muss.
Im Großformat steht dem der Flughafen gegenüber, an dem man noch vor Jahren mehrere Stunden festgehalten wurde und dabei zwischen einem Handyspiel und einem Buch gezwungenermaßen nur den immerhin ganz ansehnlichen Ausblick als Halt für seine sonstige Tatenlosigkeit
hatte. Denn konnten die Stadtbürger um 1900 bis in die 1940er hinein noch eigens errichtete Wartehallen und -säle aufsuchen, muss die Pause vom Tun heute anders zugebracht werden.
So werden Zeiten zwischen zwei Terminen für den einen zur willkommenen Auszeit und für andere zur unliebsamen Aushalte-Qual im Miniaturformat. Das zeigt, dass das Warten nicht immer so romantisch
ist, wie im Edward-Hopper-Gemälde. Doch auch solche Momente tun sich in Erfurt oft auf. In Cafés kann man jung und alt dabei zusehen, wie sie ein wenig arbeiten, weil sich der Weg von einem Termin ins Büro vielleicht nicht lohnt, oder einfach nur aus dem Fenster aufs Stadtgeschehen schauen. Und damit auf Menschen, die gerade beschäftigter sind, als man selbst. Zumindest augenscheinlich.