Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Der Raum zwischen Auszeit und Aushalten

Der Anblick langer Warteschla­ngen ist in Erfurt ein seltener geworden. Aber es gibt auch andere Situatione­n mit Pause vom Alltag

- Kathleen Kröger

Erfurt. Die Zeit totschlage­n zu müssen ist eine Beschäftig­ung – oder besser Nicht-Beschäftig­ung –, die sich im Laufe des 20. Jahrhunder­ts massiv gewandelt hat. Nicht nur, in welcher Form man wartet, sondern auch worauf.

In Erfurt kann man Wartende nur noch an ausgesucht­en Orten finden und erkennen. Am einfachste­n lässt es sich an langen Schlangen festmachen, die sich vor Tür und Tor der Stadt auftun. Hier wie auch an anderer Stelle sind die Leute meistens allein unterwegs und schauen mangels einer analogen Begleitung eher in den digitalen, in dem sie ins Handy schauen und eher dort als mit anderen Anstehende­n interagier­en.

Früher mit Knetsch, heute mit Smartphone

Damit stirbt der typische „Knetsch“vor der Kaufhalle – und wenn er nur der Überbrücku­ng bis zur Bückware der Kassiereri­n im HO diente – schon lange aus. Aber wo steht man heute überhaupt noch an?

An Kaufhallen muss man es heutzutage nicht mehr tun, wobei uns Corona im Jahr 2020 hier eines Besseren belehrt hat. Viel deutlicher zeigte sich das Phänomen der heute unüblich gewordenen Warteschla­nge

aber in langen Menschenke­tten, die einen der Schnelltes­t-Standorte ansteuerte­n, um eine Bescheinig­ung für die Arbeit oder den Besuch im Pflegeheim zu bekommen.

Zuletzt hatte man solche Szenarien in der Landeshaup­tstadt wohl zur Währungsun­ion 1990 sehen können, nach der sich etliche Menschen vor den Sparkassen ansammelte­n. Aber Warten geht auch anders. Ganz typisch in Erfurt vor allem

an Bus- und Straßenbah­nhaltestel­len. Hier sind es allerdings meistens kurze Minuten, die bis zur Ankunft des nötigen Fahrzeugs zu überbrücke­n sind. Hier unterschei­det sich, wer sich gern auf die Bank unter dem Haltestell­endach setzt oder in der unruhigere­n Variante eher außerhalb des Häuschen steht.

Wer längere Zeiten an Orten zubringt, die weder Start noch Ziel sind, hat mit sich auf intensiver­e Art

und Weise zu tun. So in der kleineren Form am Busbahnhof, der gerade abends einige Pendler auffangen muss.

Im Großformat steht dem der Flughafen gegenüber, an dem man noch vor Jahren mehrere Stunden festgehalt­en wurde und dabei zwischen einem Handyspiel und einem Buch gezwungene­rmaßen nur den immerhin ganz ansehnlich­en Ausblick als Halt für seine sonstige Tatenlosig­keit

hatte. Denn konnten die Stadtbürge­r um 1900 bis in die 1940er hinein noch eigens errichtete Wartehalle­n und -säle aufsuchen, muss die Pause vom Tun heute anders zugebracht werden.

So werden Zeiten zwischen zwei Terminen für den einen zur willkommen­en Auszeit und für andere zur unliebsame­n Aushalte-Qual im Miniaturfo­rmat. Das zeigt, dass das Warten nicht immer so romantisch

ist, wie im Edward-Hopper-Gemälde. Doch auch solche Momente tun sich in Erfurt oft auf. In Cafés kann man jung und alt dabei zusehen, wie sie ein wenig arbeiten, weil sich der Weg von einem Termin ins Büro vielleicht nicht lohnt, oder einfach nur aus dem Fenster aufs Stadtgesch­ehen schauen. Und damit auf Menschen, die gerade beschäftig­ter sind, als man selbst. Zumindest augenschei­nlich.

 ?? KATHLEEN KRÖGER (4), PETER RIECKE (1), SASCHA FROMM (1), STADTARCHI­V ERFURT (1) ?? …wie es 2020 erst wieder durch das Anstehen für Corona-Tests, wie hier an der Engelsburg, zu beobachten war.
KATHLEEN KRÖGER (4), PETER RIECKE (1), SASCHA FROMM (1), STADTARCHI­V ERFURT (1) …wie es 2020 erst wieder durch das Anstehen für Corona-Tests, wie hier an der Engelsburg, zu beobachten war.
 ?? ?? Sparkassen waren zur Währungsun­ion 1990 auch in Erfurt die Orte, an denen sich schnell lange Schlangen bildeten (Archiv-Foto)...
Sparkassen waren zur Währungsun­ion 1990 auch in Erfurt die Orte, an denen sich schnell lange Schlangen bildeten (Archiv-Foto)...
 ?? ?? Im Regen hat man es unterm Haltestell­endach besonders gut. Wie hier am Hanseplatz Richtung Ringelberg.
Im Regen hat man es unterm Haltestell­endach besonders gut. Wie hier am Hanseplatz Richtung Ringelberg.
 ?? ?? Auch der kleine, aber feine Busbahnhof an der Schmidtste­dter Straße wird in Zeiten größerer Fahrten-Abstände zum Warte-Ort.
Auch der kleine, aber feine Busbahnhof an der Schmidtste­dter Straße wird in Zeiten größerer Fahrten-Abstände zum Warte-Ort.
 ?? ?? So nobel möbliert wie im Wartesaal des Hauptbahnh­ofs um 1900 kann man heute wohl kaum noch Zeit überbrücke­n.
So nobel möbliert wie im Wartesaal des Hauptbahnh­ofs um 1900 kann man heute wohl kaum noch Zeit überbrücke­n.
 ?? ?? Im „Café des Lesens“kann man aus dem Fenster schauen. Oder die Zeit an Handy und Co. überbrücke­n.
Im „Café des Lesens“kann man aus dem Fenster schauen. Oder die Zeit an Handy und Co. überbrücke­n.
 ?? ?? Am Flughafen Erfurt-Weimar lässt sich das Warten mit Blick auf die stehenden Flugzeuge verkürzen.
Am Flughafen Erfurt-Weimar lässt sich das Warten mit Blick auf die stehenden Flugzeuge verkürzen.

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