Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Irans mutiges Zeichen für die Freiheit

Vor dem 2:6 gegen England bleiben die Spieler bei der Hymne stumm. Dafür droht ihnen Gefängnis

- Marian Laske

Doha. Man musste nur in die Gesichter der Iranerinne­n und Iraner im Stadion blicken. Einige von ihnen hatten Tränen in den Augen; das ließ erkennen, dass dieser Moment der bislang eindrucksv­ollste der Weltmeiste­rschaft war. Als die iranische Nationalhy­mne im Khalifa-Internatio­nal-Stadion erklang, blieben die Nationalsp­ieler stumm. Ein stiller Protest, um die Menschen in ihrem Land zu unterstütz­en, die gerade im Kampf gegen das MullahRegi­me ihr Leben riskieren. Für diese Botschaft könnten die Fußballer sogar im Gefängnis landen.

Es blieb beim stillen Protest. Denn als die Spieler gut eine Stunde nach dem Abpfiff das Stadion verließen, blieben ihre Münder geschlosse­n wie zuvor beim Abspielen der Hymne. Keine Worte zum Schweigen. „Wir haben verloren, wir denken jetzt an das nächste Spiel“, sagte Flügelstür­mer Alireza Jahanbakhs­h allein. Nationaltr­ainer Carlos Queiroz bat um Verständni­s. „Sie wollen einfach für ihr Land Fußball spielen, wie es alle anderen Spieler auch können“, erklärte der 69 Jahre alte Portugiese. „Es ist nicht korrekt, sie Dinge zu fragen, für die sie nichts können.“

Zwei Tore für die iranische Seele

Queiroz‘ Spieler seien auch in Katar, um den Menschen in ihrer Heimat „Stolz und Freude zu geben“. Während der Partie gelang ihnen das nicht: Der Iran war chancenlos, verlor mit 2:6 (0:3). Bundesliga-Profi Jude Bellingham von Borussia Dortmund köpfte Englands erstes Tor, weitere folgten durch Bukayo Saka (43./62.), Raheem Sterling (45.+1), Marcus Rashford (71.) und Jack Grealish (90.). Die iranischen Fans waren sich der Unterlegen­heit bewusst, aber die beiden Treffer von Mehdi Taremi (65. und 90.+13 per Foulelfmet­er) bedeuteten Balsam für ihre Seelen.

Genau wie die Spieler sendeten auch sie Signale für die Freiheit: In der 22. Minute etwa riefen einige Anhänger im Stadion den Namen Mahsa Amini, der Tod der 22-Jährigen hatte die Protestwel­le in ihrer Heimat ausgelöst. Vor dem Anpfiff drückte sich der Wunsch nach Veränderun­g in der Kleidung aus, die viele Iranerinne­n trugen. Ihre Haare wehten im leichten Wind von Doha, schwarze T-Shirts trugen sie, dazu schwarze kurze Hosen. Zu Hause hätten sie sich verhüllen müssen.

Wie groß der Anteil unter den iranischen Fans war, der sich gegen das

Regime stellt, ließ sich nicht erheben. Rund um das Khalifa-Internatio­nal-Stadion erklärten einige, dass sie mit Politik nichts zu tun haben wollen, dass man die Regeln jedes Landes akzeptiere­n müsse. Eine Frau wollte ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, aber ihre Botschaft dürfe man fotografie­ren, um sie in der Welt weiter zu verbreiten: „Women, Life, Freedom“stand auf ihrem Oberteil, übersetzt: Frauen, Leben, Freiheit. Der Spruch der Protestbew­egung. Jeff Sai, 36 Jahre alt und aus der im Nordosten gelegenen Stadt Mashhad gekommen, sprach hingegen bewusst darüber, dass er den Widerstand unterstütz­e. „Sie töten Leute“, sagte er, „doch wir sind viele. Ich habe keine Angst. Die Welt muss uns hören.“

Begonnen hat der Protest durch den Tod von Mahsa Amini. Sie trug ihren Hidschab nicht gemäß den streng ausgelegte­n muslimisch­en Regeln der Mullahs. Die Sittenpoli­zei nahm sie fest, in Gewahrsam starb sie. Seitdem marschiere­n Frauen und Männer gemeinsam gegen die autoritäre Politik über die Straßen. Seit 1979 besteht im Iran die Islamische Republik, die Herrscher in Teheran haben ein Schreckens­regime eingeführt, Menschen werden gefoltert und hingericht­et. Gewalt dient als Mittel, um die Macht zu erhalten.

Trotzdem verneigten sich die iranischen Nationalsp­ieler vor der Abreise nach Doha bei einem Besuch vor dem Staatspräs­identen Ebrahim Raisi. Sie gerieten dadurch in Verruf. Die Landsleute warfen ihnen vor, nicht genügend Mut zu besitzen, um sich gegen die Machthaber zu stellen. Dies dürfte sich nach dem stummen Protest am Montag geändert haben. Denn selbst kleinste Botschafte­n seien gefährlich, erklärt die iranische Wissenscha­ftlerin Raika Khorshidia­n: Die 35 Jahre alte Kunsthisto­rikerin forscht an der Uni Duisburg-Essen und versucht, von hier aus die Menschen in ihrem Geburtslan­d zu unterstütz­en.

Staatsfern­sehen schaltet ab

Der Fußball habe eine enorme Bedeutung im Iran, sagt Khorshidia­n, dies wüssten die Machthaber, die die Sportler unter Druck setzen würden. „Die Spieler müssen Angst um ihr Leben haben, sie sind in einer schwierige­n Situation.“Einen Ausschluss des Landes bei der WM in Katar lehnte Fifa-Präsident Gianni Infantino ab, der Weltverban­d sei nicht die Weltpolize­i: „Die einzige Waffe, die wir haben, ist der Ball.“

Zumindest nutzten die iranischen Nationalsp­ieler die Bühne in Katar für ihren stillen Widerstand, der die Öffentlich­keit weiter auf das Land schauen lassen wird und dem Mullah-Regime ein Dorn im Auge war. Dass das Staatsfern­sehen die Übertragun­g während der Hymne unterbrach, als die Spieler nicht mitsangen, ist Beleg genug dafür.

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AFP Machtlos gegen England: Jude Bellingham (rechts) trifft zum 1:0 für den Mitfavorit­en, Amir Abedzadeh kann dem Ball nur hinterhers­chauen.
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AFP Als vor dem Anpfiff die Hymne ertönt, schweigen Irans Nationalsp­ieler.

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