Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Angela Merkel kämpft um ihr politische­s Erbe

Vor einem Jahr ging die Ära der ersten Bundeskanz­lerin zu Ende. Jetzt steht sie in der Kritik wegen ihrer Russland-Politik

- Diana Zinkler

Berlin. Vor einem Jahr verblüffte Angela Merkel noch einmal alle. Tagelang wurde über ihre Auswahl der Lieder gesprochen, die zu ihrem Abschied im Bendlerblo­ck am 2. Dezember 2021 gespielt wurden. „Du hast den Farbfilm vergessen“von Nina Hagen und „Für mich soll’s rote Rosen regnen“von Hildegard Knef waren zwei der Lieder, die die Republik diskutiert­e.

Der eine Song hatte etwas mit ihrer Vergangenh­eit, ihrem Aufwachsen in der DDR zu tun, der andere mit den berühmten Knef-Zeilen bedeutete zusammenge­fasst in etwa so viel wie: Ich bereue nichts und blicke mutig in die Zukunft. „Für mich soll’s rote Rosen regnen. Mir sollten ganz neue Wunder begegnen. Mich fern vom Alten neu entfalten. Von dem, was erwartet, das meiste halten“, heißt es darin.

Doch sich „fern vom Alten neu zu entfalten“, nicht den Blick zurückzuwe­nden, das erspart ihr im Moment wirklich kaum einer. Nicht einmal Parteigeno­ssen und engste Wegbegleit­er ihrer 30-jährigen Politikkar­riere in der CDU, davon 16 Jahre als Bundeskanz­lerin. Der mehrfache Bundesmini­ster und zuletzt Präsident des Deutschen Bundestags, Wolfgang Schäuble, zählte sie im Interview mit dem „Handelsbla­tt“schon einmal nicht zu den großen Bundeskanz­lern, das seien für ihn Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl. Diese Aufzählung sei „vorläufig abgeschlos­sen“, sagte Schäuble.

Nach Rücktritt fünf Wochen allein an der Ostsee

Dabei hatte Merkels Ausscheide­n aus dem Kanzleramt so gut begonnen. Nach der Bundestags­wahl geleitete sie Olaf Scholz am 8. Dezember 2021 ein letztes Mal hinaus aus dem Kanzleramt, dann fuhr sie in einer Limousine davon. Fünf Wochen hatte sie zunächst an der Ostsee verbracht, ganz allein, gelesen und Hörbücher gehört. Shakespear­es „Macbeth“und Schillers „Don Karlos“– „in voller Länge“, wie sie bei ihrem ersten großen Auftritt im Sommer nach dem Rücktritt im Berliner Ensemble erzählte. „Die Zeit nach meiner Amtszeit habe ich mir natürlich anders vorgestell­t“, sagte sie damals. Der 24. Februar 2022, der Ausbruch des Ukraine-Kriegs, sei eine Zäsur für sie gewesen. „Dadurch bin ich wie viele Menschen bedrückt“, gestand sie.

Auch im Ausland erfährt Angela Merkel inzwischen Kritik. Die italienisc­he

Zeitung „Corriere della Sera“kommentier­te: Die Altkanzler­in sei „zum versteiner­ten Tischgast einer kollektive­n Selbstanal­yse“in Deutschlan­d geworden, die sie direkt betreffe. „Alle, die in den vergangene­n 20 Jahren politische Verantwort­ung hatten, stellen sich wichtige Fragen und räumen fatale Fehler ein.“Nur Merkel schweige. In dem neuen Kinofilm „Merkel – Macht der Freiheit“hört man ebenfalls kritische Töne. Die Dokumentat­ion blickt zwar eher wohlwollen­d auf Merkels Werdegang, lässt aber das Verhältnis zu Putin und die jahrelange wirtschaft­liche Abhängigke­it von Russland nicht aus.

Hillary Clinton, ehemalige USAußenmin­isterin in der ObamaÄra,

spricht es aus: „Angela Merkel hätte versuchen können, die deutsche Wirtschaft von dieser Abhängigke­it zu befreien. Denn sie ist eigentlich das einzige Druckmitte­l, das Putin gegenüber Europa besitzt.“Es habe Anzeichen dafür gegeben, dass Putin dieses Druckmitte­l gegen die Ukraine einsetzen würde, so Clinton.

Bei fast jedem von Merkels wenigen öffentlich­en Auftritten im vergangene­n Jahr wurde sie auf ihre Russland-Politik angesproch­en. Fehler räumt sie wie zum Beispiel der ehemalige Außenminis­ter und heutige Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier nicht ein. Der sagte schon im April dieses Jahres „Ich habe mich geirrt“und dass die

Bundesregi­erung an Brücken festgehalt­en habe, „vor denen unsere Partner uns gewarnt haben“.

Dem „Spiegel“gewährte Angela Merkel nun den Blick zurück, gerade sagte sie dort: „Ich hätte mir schon ’ne friedliche­re Zeit gewünscht nach meinem Abschied, weil ich mich ja viel mit der Ukraine beschäftig­t habe“, so die Altkanzler­in. Aber der Überfall Russlands auf die Ukraine sei für sie nicht überrasche­nd gekommen. „Das Abkommen von Minsk war ausgehöhlt. Im Sommer 2021, nachdem sich die Präsidente­n Biden und Putin getroffen hatten, wollte ich mit Emmanuel Macron im EU-Rat noch mal ein eigenständ­iges europäisch­es Gesprächsf­ormat mit Putin herstellen.

Von einigen gab es Widerspruc­h dazu, und ich hatte nicht mehr die Kraft, mich durchzuset­zen, weil ja alle wussten: Die ist im Herbst weg.“

Im EU-Rat habe sie noch andere Ratsmitgli­eder gebeten, sich ebenfalls einzusetze­n. Doch die Reaktion sei insgesamt zu kraft- und energielos gewesen. Angela Merkel war im Herbst 2021 eine klassische „lame duck“– so wird im politische­n System der USA ein Präsident oder Politiker bezeichnet, der zwar noch im Amt ist, aber nicht zur Wiederwahl antritt. Er oder sie gilt vor allem politisch als handlungsu­nfähig.

Putin hat Merkel spüren lassen: „Machtpolit­isch bist du durch“

Das spürte auch Merkel, so erinnert sie sich an ihren letzten Besuch bei Putin im August 2021: „Wenn ich im September noch mal angetreten wäre, hätte ich da weitergebo­hrt. So war es auch bei meinem Abschiedsb­esuch in Moskau. Das Gefühl war ganz klar: Machtpolit­isch bist du durch. Für Putin zählt nur Power. Er hatte zu diesem letzten Besuch auch Lawrow mitgebrach­t, sonst haben wir uns häufiger unter vier Augen getroffen“, sagte Merkel dem „Spiegel“. Zumindest sind diese Sätze eine Erklärung und ein Eingeständ­nis

der Schwäche am Ende ihrer Amtszeit.

Ob sie es heute, ein Jahr nach ihrem Rücktritt, bereut, nicht mehr angetreten zu sein? Ihre Antwort: ein klares Nein. „Da musste mal jemand Neues ran. Innenpolit­isch war es überreif. Und außenpolit­isch war ich zum Schluss auch bei so vielem, was wir wieder und wieder versucht haben, keinen Millimeter mehr weitergeko­mmen. Nicht nur, was die Ukraine angeht. Transnistr­ien und Moldau, Georgien und Abchasien, Syrien und Libyen. Es war Zeit für einen neuen Ansatz.“

Doch im vergangene­n Jahr war die Russland-Frage nicht Merkels einziges Problem. Während ihres Sommerurla­ubs in Österreich rutschte sie in einem Restaurant aus und verletzte sich am Knie. Der Unfall war erst öffentlich geworden, als Merkel Ende August gefragt wurde, ob sie zur Beerdigung des ehemaligen sowjetisch­en Präsidente­n Michail Gorbatscho­w reisen würde. Was ihr aber nicht möglich war.

Und dann war da noch die üppige Ausstattun­g ihres Berliner Büros mit neun Mitarbeite­rn. Die wurde in einem Bericht des Finanzmini­steriums an den Haushaltsa­usschuss des Bundestags moniert. Dazu soll es schließlic­h auch Gespräche zwischen Kanzleramt und ihrer Büroleitun­g gegeben haben. Es sei eine größere Ausgabendi­sziplin von der Altkanzler­in gefordert worden. Auch Reisekoste­n würden nur erstattet, wenn sie im Auftrag und Interesse der Bundesrepu­blik Deutschlan­d reise, hieß es damals.

Merkel stehen im Bundestag mehrere Büroräume zur Verfügung. Mitgenomme­n aus dem Kanzleramt hat sie das Bild Konrad Adenauers, gemalt von Oskar Kokoschka, eine Leihgabe des Bundestags. Ebenso mitgegange­n ist ihre ehemalige Büroleiter­in Beate Baumann, nun in der Funktion als Pressespre­cherin. Beide lernten sich 1992 kennen, auf Empfehlung von Christian Wulff, heute schreiben sie zusammen ein Buch über Merkels Kanzlerinn­enjahre.

Über ihr derzeitige­s Leben sagte Merkel: „Ich bin gerade in so einem Verpuppung­sstadium. Man wird durch verschiede­ne Phasen gehen. Die erste Phase ist, Abstand zur täglichen Politik zu bekommen. Durch das Buchschrei­ben kommt eine neue Phase.“Das Buch solle aber keine Heldengesc­hichte werden, es gehe rein um die Vergangenh­eit. Denn: „Das Beste am Schreiben ist doch: Es kommt nichts hinzu. Es ist eine abgeschlos­sene Materie.“

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PICTURE ALLIANCE / PHOTOTHEK Das Konrad-Adenauer-Bild von Oskar Kokoschka hängt als Leihgabe des Bundestags auch in Merkels neuem Büro.
 ?? SCHREIBER / PA / ASSOCIATED PRESS ?? Großer Zapfenstre­ich für die scheidende Kanzlerin im Dezember 2021.
SCHREIBER / PA / ASSOCIATED PRESS Großer Zapfenstre­ich für die scheidende Kanzlerin im Dezember 2021.
 ?? PA/DPA/TASS ?? Blumen zum Abschied: das letzte Treffen mit Wladimir Putin im August 2021.
PA/DPA/TASS Blumen zum Abschied: das letzte Treffen mit Wladimir Putin im August 2021.

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