Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Forscher fürchten Mega-Erdbeben
Geologe warnt eindringlich vor Katastrophe, die in Istanbul bis zu 100.000 Tote fordern könnte
Istanbul. Als am Mittwochmorgen gegen vier Uhr früh ein Erdbeben die türkische Schwarzmeerprovinz Düzce erschütterte, wurden auch im 200 Kilometer entfernten Istanbul viele Menschen unsanft aus dem Schlaf geweckt. Anders als in Düzce, wo Dutzende Gebäude beschädigt und 94 Menschen verletzt wurden, gab es in der Bosporusmetropole keine Schäden. Aber Grund zur Erleichterung haben die 16 Millionen Einwohner nicht. Ganz im Gegenteil.
Das Beben von Düzce sei „eine furchtbar schlechte Nachricht“, sagt der Geologe Celal Sengör. Der 67-Jährige ist einer der bekanntesten türkischen Geologen und lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor an der Technischen Universität Istanbul. Auch international genießt Sengör in Fachkreisen großes Ansehen. Er ist unter anderem Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Ehrendoktor der Universität Neuchâtel.
Umso beunruhigender ist, was er jetzt dem Sender Habertürk sagte: „Ich warne Istanbul!“Der Geologe sieht in dem Beben von Düzce den Vorboten eines weitaus heftigeren
Erdstoßes, der in naher Zukunft die Millionenstadt treffen könnte. Dies sei „vielleicht die letzte Chance einer Warnung“, so Sengör. Dem Moderator, der ihn interviewte, empfahl er: „Ziehen Sie weg aus dem Zentrum Istanbuls.“
Beim großen Beben 1999 kamen mehr als 18.000 Menschen um
Die Türkei liegt im Spannungsfeld tektonischer Platten. Hier treffen die Kontinentalblöcke Afrikas, Arabiens und Eurasiens aufeinander. Wenn sich die Platten ineinander verhaken, staut sich Energie im Gestein auf, die sich in Erdbeben entlädt. Die seismisch aktivsten Gebiete liegen entlang der nordanatolischen Verwerfung. Sie verläuft über etwa 1200 Kilometer vom Iran durch die Nordtürkei und das Marmarameer bis in die Ägäis.
Erdbeben sind in der Türkei ein alltägliches Phänomen. Die meisten sind nur für empfindliche Messgeräte wahrnehmbar. Aber das Beben von Düzce war für Geologen eine große Überraschung. Schon im November 1999 wurde Düzce von einem schweren Erdstoß heimgesucht. Damals starben hier 845 Menschen. Die meisten Wissenschaftler glaubten, dass die Spannung
im Gestein mit diesem Beben für lange Zeit abgebaut sei. Aber das neuerliche Beben zeige, dass „nicht alle Geologen die Bewegung der nordanatolischen Verwerfung voll verstehen“, sagt Sengör.
Seit vielen Jahrzehnten warnen Wissenschaftler vor einem schweren Erdbeben in Istanbul. Geologen rechnen mit einem Beben der Stärke 7,1 bis 7,7. Es kann sich in zehn oder 20 Jahren ereignen – oder schon morgen. Sicher ist: Die Katastrophe wird kommen. Seit Mittwoch glaubt Sengör: „Das IstanbulBeben ist ziemlich nahe.“
Einen Vorgeschmack bekam die Metropole am 17. August 1999. Damals brachte ein Beben der Stärke 7,6 bei der nordwesttürkischen Industriestadt Izmit über 15.000 Gebäude zum Einsturz. 18.373 Menschen starben, 120.000 Familien wurden obdachlos. Auch im 100 Kilometer entfernten Istanbul richtete das Beben schwere Schäden an.
Das für Istanbul prognostizierte Beben könnte weitaus schlimmere Folgen haben. Nach einer Studie der Stiftung für urbane Transformation (Kentsev) werden 491.000 der 1,2 Millionen Gebäude in Istanbul betroffen sein. Etwa 13.000 Bauten könnten völlig einstürzen, weitere 39.000 schwere Schäden davontragen. Schätzungen gehen von 40.000 bis 100.000 Todesopfern aus.
Nach dem Beben von Izmit 1999 wurden zwar neue Notfallpläne ausgearbeitet. So wiesen die Behörden in Istanbul Flächen aus, auf denen im Katastrophenfall Sammelstellen für Rettungsgerät und Hilfsgüter eingerichtet sowie Zeltstädte für Obdachlose gebaut werden sollen. Aber Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu von der Oppositionspartei CHP wirft der Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan vor, sie habe viele dieser Grundstücke in den vergangenen Jahren zur Bebauung freigegeben. Erdogan wiegelte ab: Es gebe „Zehntausende“Sammelplätze. Der Opposition riet er, „nicht über Dinge zu reden, von denen sie nichts versteht“.