Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Brasilien staunt und bangt
Ein Traumtor besiegelt den erfolgreichen WM-Start. Doch Neymar fällt vorerst aus
Lusail. Die eingesetzten Spieler feierten mit den Fans vor der Tribüne, da trainierten die brasilianischen Ersatzleute auf dem Rasen des Lusail-Stadions schon wieder Sprints. Wie um die doppelte Botschaft zu überbringen, dass der fünfmalige Weltmeister nach einem 2:0 gegen Serbien zwar glückselig im Turnier angekommen ist – aber lange noch nicht fertig ist. Doch dann schob sich über den betörend hochklassigen Einstand noch eine Wolke. Denn es wurde klar: Das mit Neymar könnte etwas Ernstes sein.
Niemand im Weltfußball wird so oft gefoult, diese Statistiken ziehen sich durch die Karriere des 30 Jahre alten Dribbelkünstlers. Gleich neunmal holten ihn zum WM-Einstand die Serben von den Beinen. Darunter war ein Tritt von Nikola Milenkovic, der Neymars rechten Knöchel annähernd auf Tennisballgröße anschwellen ließ – und entsprechend auch die Sorgen im brasilianischen Team. Diese waren begründet, Teamarzt Rodrigo Lasmar erklärte, dass es sich um eine Verstauchung handele. Neymar verdrückte ein paar Tränen, kühlte das Fußgelenk mit Eis. Am Freitag dann die Diagnose: Der Rekordweltmeister wird zumindest in seinem zweiten Gruppenspiel am Dienstag gegen die Schweiz auf seinen Superstar verzichten müssen.
Eine Geduldsprobe, die Neymar fürs Erste an seinem Lieblingsort überbrückte: bei Instagram. „Glauben
haben“betitelte der religiöse Star einen Beitrag, in dem er unter anderem ausführte, dass es gelte, „auch im Chaos“auf einen „guten Ausgang“zu vertrauen. Bei ihm braucht es dafür umso mehr Kraft, bei Weltmeisterschaften ist er ein gebranntes Kind.
Unvergessen sind die Szenen kollektiven Entsetzens in Brasilien, als der damalige Jungstar bei der HeimWM 2014 nach einem Kniestoß in seinen Rücken durch den Kolumbianer Juan Camilo Zuniga ins Krankenhaus eingeliefert wurde – und Brasilien ohne ihn prompt 1:7 gegen Deutschland unterging.
Ein persönliches Drama droht
„Er ist unverzichtbar für uns“, sagte nun Abräumer Casemiro, derweil die Journalisten in der Nacht von Katar jede Wasserstandsmeldung und jedes verfügbare Knöchelfoto in die Welt hinauskabelten. Doch bei genauerer Betrachtung klang alles Wehklagen über den möglichen Verlust des Zugpferds ein wenig hohl, wie einstudiert. Für Neymar wäre es bei seiner wohl letzten WM sicher ein persönliches Drama, zumal er auch 2018 nach einer Fußoperation nicht im Vollbesitz seiner Kräfte spielte. Aber in Brasilien brach deshalb noch lange nicht die von einst gewohnte Hysterie aus. Denn der Neymar von 2022 ist nicht mehr der von 2014; vor allem in seiner Heimat nicht.
Das liegt zum einen an Neymars politischer Positionierung im kürzlichen Präsidentschaftswahlkampf, als er sich für einen Sportler ungewohnt penetrant auf die Seite des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro schlug. Doch es kommt auch von weiter her. Viele Brasilianer sind über die Jahre seiner Allüren, seiner Sonderrechte und der Geldgier seines Berater-Vaters überdrüssig geworden. Und dann ist da noch die harte sportliche Wahrheit: Den einzigen großen Titel in den letzten 15 Jahren, die Südamerikameisterschaft 2019, gewann Brasilien ohne den Mann von Paris St.-Germain.
Lieber widmeten sich viele Medien nach dem WM-Einstand daher dem Matchwinner Richarlison. Das war durch seine beiden Treffer, vor allem sein sensationelles Seitfallziehertor zum 2:0, einerseits voll gerechtfertigt. Es gab aber auch eine frischere Geschichte zu erzählen. Denn Richarlison ist in vielerlei Hinsicht der Anti-Neymar.
Wo der Superstar bei Instagram von seinen Partys oder Bolsonaro schwärmt, engagierte sich der 25 Jahre alte Richarlison in den letzten Jahren für Umweltthemen oder die Bekämpfung des Coronavirus.
Das mag nach selbstverständlich klingen, war es aber die letzten vier Jahre nicht in einem Land, dessen Präsident in bisher ungekanntem Maße den Regenwald abholzen ließ und die Pandemie leugnete. Als einziger Nationalspieler erlaubte sich Richarlison außerdem, auf die Gefahren der Vereinnahmung des Nationaltrikots durch Brasiliens Rechte hinzuweisen, die es als politisches Standardoutfit tragen. Einen „Identitätsverlust“sieht darin Richarlison.
Richarlisons weiches Herz
Der Angreifer von Tottenham Hotspur hat ein raues Image: In der Premier League kabbelt er sich oft mit Gegenspielern und wurde mal gesperrt, weil er ein qualmendes Bengalo auf die Tribünen zurückwarf. Doch dahinter steckt ein weiches Herz. In seiner Heimatregion Espírito Santo ist er bekannt für sein soziales Engagement. Seine Familie hilft den Armen und Kranken, mit direkten Zuwendungen, nicht über Stiftungen, die bei Fußballern, so der Verdacht, oft nur der PR oder der Steuerersparnis dienen. Anders als Neymar wird Richarlison gegen die Schweiz spielen können. Wie Vinicius Junior, wie Lucas Paqueta, wie viele andere. Anders als etwa 2014 hätte Brasilien das Talent, um Neymars Ausfall kompensieren zu können.