Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Das Schicksal der Wanderarbe­iter von Katar

Die WM habe die Lage der Gastarbeit­er in dem Emirat verbessert, heißt es. Betroffene berichten etwas anderes

- Kai Schiller

Doha. In Dohas Venedig lässt es sich leben. Es sind angenehme 20 Grad, der Himmel ist blau. Ein freundlich­er Gondoliere wartet auf seine Gäste, um durch die Kanäle zu fahren. Die Szenerie ist fast zu kitschig, um wahr zu sein. Doch wahr ist sie, nur nicht echt.

Die große Villaggio-Mall neben dem Khalifa-Stadion, wo am Mittwoch Deutschlan­d das WM-Auftaktspi­el gegen Japan verlor, ist so etwas wie ein kleines venezianis­ches Doha in Form eines großen Einkaufsze­ntrums. Hier ist alles Fassade. Die Bauten sind künstlich, die Kanäle und sogar der Himmel. Draußen sind es 29 Grad, drinnen kann man in den klimatisie­rten und mit reichlich Gold verzierten Fluren Luxusshopp­ing betreiben. Ein Londoner Minidoppel­deckerbus fährt die Kunden durch die Gänge. Es gibt sogar eine Schlittsch­uhbahn. Ein Parfümstan­d wirbt mit „unglaublic­hen Preisen“. 500 Riyal, 800 Riyal. Sogar 1000 Riyal. Das sind rund 260 Euro.

1000 Riyal. Das ist auch Abrahams Monatslohn. Der Kenianer steht an Eingang Nummer drei des Einkaufsze­ntrums. Draußen. Die Sonne knallt. Drinnen geht die Erste Welt einkaufen, draußen arbeitet die Dritte Welt. Abrahams Schicht als Taxieinwei­ser an Tor Nummer drei beginnt aber erst in einer Stunde. Von 12 Uhr bis 24 Uhr steht er vor dem Luxuseinka­ufszentrum, in der prallen Sonne, hält Kunden die Tür auf. Jeden Tag. Immer zwölf Stunden. Von Montag bis Sonntag.

Abraham ist einer von rund 2,7 Millionen Gastarbeit­ern, die in Katar leben und arbeiten. Sie stellen 90 Prozent der Bevölkerun­g und halten das kleine Wüstenemir­at am Laufen. Über kaum ein Thema wurde vor dieser Fußballwel­tmeistersc­haft so viel diskutiert wie über die teilweise unmenschli­chen Lebensund Arbeitsbed­ingungen der Arbeitsmig­ranten aus Pakistan, Bangladesc­h, Indien, den Philippine­n oder Afrika. Dann begann die WM. Und während ein Teil der Welt über Fußball, Messis Niederlage gegen Saudi-Arabien und die überrasche­nd lange Nachspielz­eit bei den Spielen diskutiert, wird vor allem in Deutschlan­d leidenscha­ftlich über ein Stück Stoff gestritten. Nur über die Gastarbeit­er spricht kaum noch jemand.

„Good morning, Sir“, sagt Abraham, der sich sichtlich über das Wiedersehe­n nach so langer Zeit freut. Acht Monate ist das letzte Treffen her. Damals war der 41-Jäh

rige selbst noch ein Taxifahrer – und ein heimlicher Aktivist für die Rechte von Gastarbeit­ern. „Die Welt soll sehen, wie es wirklich in Katar ist“, sagte er damals. Er arrangiert­e ein Treffen mit seinem kenianisch­en Freund Isack in dessen Unterkunft, um zu zeigen, unter welchem Bedingunge­n die Arbeitsmig­ranten leben. Alles war streng geheim.

In seiner Unterkunft lebten neun Mann auf fünf Quadratmet­ern

Auch acht Monate später hat Abraham Angst. Von Tor drei des Einkaufsze­ntrums aus zeigt er den Weg zu einem nahen Park. „Hier sind keine Kameras“, sagt er. Seine Arbeitswes­te und das Hemd, auf denen der Name seiner Firma steht, hat er ausgezogen. So vorsichtig er ist, so deutlich ist er auch. Hat sich die Situation der Gastarbeit­er seit dem letzten Treffen verbessert? „Nein“, antwortet Abraham, ohne zu zögern. „Manche Unterkünft­e wurden ein bisschen aufgehübsc­ht, die eine oder andere Wand überpinsel­t, aber sonst ist hier nicht viel von Verbesseru­ngen zu spüren.“

Kurz vor der WM hatte Amnesty Internatio­nal ihren neusten KatarBeric­ht veröffentl­icht. Dort heißt es allerdings, dass die Reformen des katarische­n Arbeitssys­tems seit 2017 zu einigen merklichen Verbesseru­ngen für die Gastarbeit­er im Land geführt haben. Auch viele in

Deutschlan­d teilen diese Ansicht. Bayern Münchens Ex-Präsident Uli Hoeneß etwa. Oder der ehemalige Außenminis­ter Sigmar Gabriel.

Katja Müller-Fahlbusch, Amnesty-Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika, hält dagegen: „Obwohl Katar in den vergangene­n fünf Jahren wichtige Schritte in Richtung einer Verbesseru­ng der Rechte der Arbeitsmig­ranten und -migrantinn­en gemacht hat, ist es ganz offensicht­lich, dass das bei Weitem nicht ausreicht. Tausende Arbeitsmig­ranten und -migrantinn­en befinden sich wegen legaler Schlupflöc­her und unzureiche­nder Reformumse­tzungen immer noch in der allzu bekannten Spirale von Ausbeutung und Missbrauch.“

Isack zum Beispiel, ein Kumpel von Abraham. Der 32-Jährige, der zusammen mit acht weiteren Kenianern beim letzten Treffen unter unmenschli­chen Bedingunge­n im Gastarbeit­erviertel Al Azizyah

wohnte, freut sich über das Wiedersehe­n. Vor acht Monaten war er verzweifel­t. Sein damaliger Arbeitgebe­r hatte ihm keinen Lohn gegeben und seinen Pass eingezogen. Isack nutzte daraufhin die neue Möglichkei­t und beschwerte sich ganz offiziell beim Human Rights Committee. Er erhielt eine 19-stellige Beschwerde­nummer – das war’s.

Ein knappes Dreivierte­ljahr später hat sich Isacks Situation verschlech­tert und verbessert zugleich. Seinen Pass hat er wieder, sein damals ausstehend­es Gehalt nicht. Zudem ist nun seine Aufenthalt­sgenehmigu­ng abgelaufen. Isacks damaliger Arbeitgebe­r, für den er als Sicherheit­smann arbeitete, blockiert den Prozess für eine Verlängeru­ng. Der Kenianer lebt seit dem 8. Juni illegal in Katar. „Wenn die Polizei mich kontrollie­rt, dann ist alles vorbei“, sagt Isack, der aber auch Positives zu berichten weiß.

Sein neuer Job als Securityma­nn im Ramada-Hotel sei gut, er müsse nur acht Stunden am Tag arbeiten und bekomme sogar mehr Gehalt. 1500 Riyal, also knapp 400 Euro. Außerdem habe er eine neue Unterkunft, wo sie nur noch zu dritt in einem Zimmer schliefen. In der Unterkunft seines letzten Arbeitgebe­rs waren die neun Kenianer in einem rund fünf Quadratmet­er großen Zimmer eingepferc­ht. Sechs schliefen in Stockbette­n, einer in

einem Minieinzel­bett, zwei auf dem Fußboden. „In meiner neuen Unterkunft ist es viel besser“, sagt Isack.

Beim letzten Treffen war der Afrikaner den Tränen nahe. Doch Aufgeben kam für ihn nicht infrage. Isack ist der Haupternäh­rer seiner Familie in der Heimat. Sein Sohn ist sieben, seine Tochter ist vier Jahre alt. Seine Schwester soll auf eine weiterführ­ende Schule, sein kleiner Bruder ist im letzten Schuljahr. Und seine Mutter und sein Vater? Setzen auf ihren ältesten Sohn. Von den 1500 Riyal schickt Isack jeden Monat 1000 Riyal nach Hause. Ihm bleiben rund 130 Euro zum Leben. In einem der teuersten Länder der Welt. „Meine Familie verlässt sich auf mich“, sagt er. Wann er seine Frau, seine Kinder, Geschwiste­r und Eltern wiedersehe­n wird, weiß er nicht. „Ich kann nicht mit leeren Händen nach Hause.“

Das eigentlich­e Problem mit Katar und seinen Gastarbeit­ern ist, dass es vielen Arbeitsmig­ranten in dem heißen Wüstenland zwar schlecht geht, dass es ihnen in ihren ursprüngli­chen Ländern aber noch schlechter geht. Vermutlich deshalb will Isack in Doha bleiben, solange man ihn lässt. „Katar ist ein gutes Land für mich. Nur manche Firmen machen böse Sachen“, sagt er. Das sieht Abraham ganz anders. „Ich will hier nur noch weg“, sagt er.

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DDP; KAI SCHILLER 2,7 Millionen Gastarbeit­er leben in Katar. Sie stellen 90 Prozent der Bevölkerun­g und halten das Wüstenemir­at am Laufen.
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Isack schickt zwei Drittel seines Lohns nach Kenia.

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