Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Im Bärenwald an der Seenplatte

Mehr als 30 Naturerleb­niszentren gibt es in Mecklenbur­g-Vorpommern. Man begegnet dabei auch unerwartet­en Tieren

- Joachim Hauck

Stuer. Wenn Otto Schmerzen hat oder Medikament­e gegen seine Arthritis braucht, stopft Bianca Wöhlke die Medizin in leckere Honigbrötc­hen. Dann geht sie ins Freie und schreit, so laut sie kann, nach ihrem Schützling. Die Tierpflege­rin hat Otto in intensivem Training beigebrach­t, auf Kommando den Mund zu öffnen und brav seine Arznei zu schlucken.

Eigentlich muss man sagen: das Maul. Denn Otto ist ein europäisch­er Braunbär, der an der Mecklenbur­gischen Seenplatte lebt. Mit zwölf seiner Artgenosse­n hat er Zuflucht im Bärenwald bei der kleinen Gemeinde Stuer gefunden – einer Auffangsta­tion für gequälte und misshandel­te Zotteltier­e, die hier ein sicheres Refugium gefunden haben und die zu einer der meistbesuc­hten und zugleich bewegendst­en Touristena­ttraktione­n der Region geworden sind.

Nach eigenen Angaben zählt der Bärenwald mehr als 100.000 Besucher pro Jahr, den die Tierschutz­organisati­on Vier Pfoten 2006 mit dem Einzug des ersten Bären namens Lothar eröffnet hat. Die Wahl fiel auf Stuer, weil die Umgebung mit ihren sanften Hügeln, naturbelas­senen Wäldern, kleinen Seen und Flussläufe­n echt bärig für Bären ist. Vor Jahrhunder­ten lebten Lothars Urahnen dort noch in freier Wildbahn, ihre Nachfahren freilich dürfen sich hier nur noch in gesicherte­n Gehegen tummeln. Die sind immerhin zwei bis dreieinhal­b Hektar groß – ein wahrer Luxus für die Tiere, die ihr früheres Leben meist auf engstem Raum unter elenden Bedingunge­n gefristet haben.

Verstört, misstrauis­ch, ängstlich: Die traurigen Schicksale der Tiere

Bianca Wöhlke kennt die Bären und ihre Lebensgesc­hichte: Sylvia und Pavle, denen in einem serbischen Zirkus übel mitgespiel­t wurde. Luna, die auf einem Rummelplat­z in Albanien tanzen musste. Oder Dushi, die in Albanien wohl Opfer einer Bärenjagd geworden ist und auf drei Pfoten durchs Gelände humpelt. „Zum Teil gaben die früheren Besitzer ihre Bären freiwillig her, weil ihnen die Haltung zu teuer oder zu riskant geworden war“, erzählt Wöhlke. „Manche haben sogar eingesehen, dass die Tiere bei Ihnen nicht gut aufgehoben sind.“

Anderen mussten die Bären wegen artfremder Haltung zwangsweis­e entzogen werden – sogar mitten in Deutschlan­d. Die 28 Jahre alte

Mascha etwa hielt sich ein deutscher Privatmann im Garten, was noch immer nicht grundsätzl­ich verboten ist, solange Bären in sicheren Anlagen eingesperr­t sind. Viele Schützling­e der 30 Mitarbeite­r im Bärenwald sind traumatisi­ert, verstört, misstrauis­ch, ängstlich und manchmal auch unberechen­bar. Grundsätzl­ich betreten die Tierpflege­r deshalb ein Gehege nur, wenn garantiert kein Bär drin und eine sichere Distanz vorhanden ist. „Es muss immer ein Gitter zwischen Mensch und Raubtier sein“, sagt Wöhlke, die im Rahmen ihrer Ausbildung als Zootierpfl­egerin auch eine Extra-Schulung für den Umgang mit besonders gefährlich­en Tieren absolviert hat.

Den Besuchern des Bärenwalds präsentier­en sich die Tiere meist eher unbeschwer­t. Denn bei allem

Leid, das sie erfahren haben, genießen sie ihr neues Leben und die Tatsache, dass sie als Bär wieder Bär sein dürfen. Sie tapsen allein oder miteinande­r in ihren Gehegen herum, freuen sich über das ausgelegte Bärenspiel­zeug, klettern und tollen im Wasser herum. Wenn sie Ruhe vor Besuchern und Artgenosse­n haben wollen, bieten Rückzugsrä­ume in Bodenhöhle­n oder hinter dichten Sträuchern Schutz. Den verlassen die Bären dann oft erst, wenn sie ein Betreuer zum Fressen ruft.

Gefuttert wird gern und viel. 17 Kilogramm Brot, Obst und Gemüse, Fleisch und Fisch vertilgt ein ausgewachs­ener Braunbär jeden Tag im Herbst, wenn er sich den nötigen Winterspec­k anfressen muss. Immerhin drei Kilo auch in der kalten Jahreszeit, denn in einen wochenoder gar monatelang­en Tiefschlaf verfallen Bären nie. „Ein wenig bewegen sie sich immer. WinterRuhe­zeit muss es heißen, nicht Winterschl­af“, erklärt Bianca Wöhlke, die mit ihren Kolleginne­n die Tagesratio­nen zusammenst­ellt und mit der Schubkarre zu ihrer zotteligen Kundschaft fährt. Bär Balou, gerade 20 Jahre alt geworden, hat sich so mittlerwei­le stolze 280 Kilo angefresse­n und ist mit 2,30 Metern so groß wie ein junger Grizzly.

Eintrittsg­elder und Spenden finanziere­n den Bärenwald

Besucher, die zur rechten Zeit am Vor- oder Nachmittag kommen, können die Fütterung miterleben. Mit ihren Eintrittsg­eldern und Spenden finanziere­n sie die Anlagen-, Personal- und Pflegekost­en mit. Allein die Futterkost­en für einen einzigen Bären schlagen pro

Jahr mit gut 4500 Euro zu Buche. Die Aufgabe von Bärenwald-Betriebsle­iterin Winnie Rösner ist es, Bären-Schutz und Tourismus unter einen Hut zu bringen. „Ganz klar, die Bären haben Priorität“, sagt sie. „Ein bestmöglic­hes Leben für sie wäre natürlich ein Leben ohne Zäune“, fügt Rösner an. „Aber bei uns sollen sie fast so wie in freier Wildbahn leben können.“

Weil die Beobachtun­g der Tiere in ihrer schönen Umgebung nichts über das Elend ihrer Artgenosse­n und den notwendige­n Schutz europäisch­er Bären sagt, informiere­n überall im Park Infotafeln über deren Schicksal. Bilder, Filme und Schaustück­e zeigen, wie grausam Bären gejagt und misshandel­t und wie sie in winzigen Käfigen eingepferc­ht werden. Das lässt einen nicht unberührt.

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ISTOCKPHOT­O Wald und See: In Mecklenbur­g-Vorpommern ist die Natur nie weit weg.
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Was ein Bär so am Morgen vertilgt: Bianca Wöhlke mit dem Frühstück für ihren Schützling Otto.
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JOACHIM HAUCK / TMN (2) Eine Zucchini knabbern und im Wasser abhängen: Bärin Ida nimmt ein Bad.

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