Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Im Drogensumpf
Weimarer Eltern müssen schwer suchtkranken Sohn loslassen, ohne ihn fallenzulassen
Er stiehlt, er dealt, er ist schwer drogenabhängig. Trotzdem kann Nora Klein* für ihren 16-jährigen Sohn Jona* nichts mehr tun, als ihm zu sagen, dass sie ihn liebt und sie ihm zur Seite stünde, wenn er sich nur helfen lassen wollte. Doch genau das will Jona, dessen Namen wir hier ebenso wie den seiner Mutter zu beider Schutz geändert haben, nicht.
Jahrelang haben seine Eltern alles in ihren Kräften Stehende versucht, um ihren Ältesten von den Drogen wegzubringen. Haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und alle Möglichkeiten genutzt, die der Staat bietet. Doch inzwischen müssen sie sich eingestehen: Es war nicht nur vergebens. Ihnen als Eltern sind auch Grenzen gesetzt, die es unmöglich machen, selbst einen Minderjährigen vor dem kompletten Absturz zu bewahren. Jonas Eltern fühlen sich im Stich gelassen.
Jona, erzählt seine Mutter, war noch nie ein pflegeleichtes Kind. Schon vor der Einschulung sei er nicht nur temperamentvoll oder gefühlsstark gewesen, „sondern fürchterlich anstrengend“. „Er war kaum zu steuern, akzeptierte keine Regeln und Grenzen“, berichtete Nora Klein. Begünstigt worden sei dieses Verhalten möglicherweise dadurch, dass sie und Jonas Vater, von dem sie inzwischen getrennt lebt, unterschiedliche Erziehungsstile verfolgten: Sie sei eher die Strenge, Konsequente, er der konfliktscheue Part, der Jona vieles durchgehen ließ. Das ist eine Einsicht, die sie heute, im Rückblick, gewonnen habe.
Bereits als Fünfjähriger beim Kinderpsychologen
Schon als Fünfjährigen stellte Nora Klein ihren Sohn beim Kinderpsychologen vor. Er diagnostizierte – wie bei Kindern wie Jona oft üblich – eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und empfahl die Einnahme von Medikamenten. „Das haben wir zu dem Zeitpunkt aber noch abgelehnt“, sagt die Mutter. Als Jona neun Jahre alt war, kam sein Bruder Georg* zur Welt – und die Probleme mit ihm verschärften sich. „Obwohl er gar nicht mehr so klein war, erlebte er eine Art Entthronungstrauma. Er konnte es nur schwer verkraften, dass er plötzlich nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.“
Die Schule, in die Jona ging und in der Kinder in altersgemischten Gruppen lernen, habe sich sehr viel Mühe mit ihm gegeben, schätzt Nora Klein ein. Zunächst sei man noch gut mit seinen Eigenheiten zurechtgekommen, Jona sei anfangs ein beliebter Mitschüler gewesen. Doch mit der Zeit seien auch die Lehrer und Erzieher an ihre Grenzen geraten, „weil mein Sohn ein notorischer Nein-Sager war, ja fast schon ein Querulant“. Eine Zeit lang habe er dann auch die vom Arzt verschriebenen ADHS-Medikamente genommen. „Doch damit ging es ihm körperlich so schlecht, dass wir sie wieder abgesetzt haben.“
Mit 14 begann Jona schließlich zu stehlen: Er vergriff sich nicht nur an den Portemonnaies seiner Eltern, er ließ auch aus der elterlichen Apotheke Medikamente mitgehen, die er auf der Straße weiterverkaufte. Immer häufiger hing Jona mit Kumpels ab, die in der Drogenszene zuhause waren – um diese Zeit herum muss er erstmals Cannabis konsumiert und Alkohol getrunken haben. „Als wir das mitbekamen“, sagt Nora Klein, „haben wir es noch mit Verboten versucht.“Dann aber hätten sie sich hilfesuchend ans Jugendamt der Stadt gewandt.
Nora Klein sagt, dass sie dort auf eine aufgeschlossene Mitarbeiterin gestoßen seien, die Verständnis für ihre Sorgen gezeigt und sofort alles Notwendige in die Wege geleitet habe: Gespräche mit Kinder- und Jugendpsychiatern, Beratung in einer
Erziehungsberatungsstelle, später auch eine Familientherapie. Doch für Jona, glaubt sie heute, sei es da wohl bereits zu spät gewesen. Nicht nur, dass er nur noch nach Lust und Laune zur Schule ging, dort „extrem“provozierend auftrat und einfach den Unterricht verließ, um den nächsten Joint zu rauchen. Er entglitt auch seinen Eltern mehr und mehr, blieb halbe Nächte fort und schaffte es, fast jedes Gespräch zum monströsen Streit eskalieren zu lassen. „Da musste ich handeln, vor allem wegen meines kleinen Sohnes, der dem ausgesetzt war“, sagt Nora Klein. Sie zog mit ihrem jüngeren Kind aus, Jona blieb beim Vater.
Achtfache lebensbedrohliche Vergiftung festgestellt
Im Dezember 2021 dann der „große Knall“, wie Nora Klein sagt: Als Jona seine Mutter besuchte, fiel ihr sofort auf, dass ihr Sohn völlig wesensverändert war. „Mir war klar, dass er etwas konsumiert hatte. Ich hatte fürchterliche Angst um ihn.“Nora Klein sah nur noch einen Ausweg: die Einweisung ihres Kindes in die
Entzugsklinik in Jena. Sie alarmierte die Polizei und den Rettungsdienst, musste zwischendurch den Notarzt fast eine Stunde lang davon überzeugen, dass ihr Sohn in akuter Gefahr war, und schaffte es schließlich, ihn in die Klinik bringen zu lassen. Dort wurde eine achtfache lebensbedrohliche Vergiftung festgestellt. „Die Oberärztin“, erinnert sich Nora Klein, „sagte mir, dass ich meinem Kind an diesem Tag das Leben gerettet hätte.“
Nach der Entlassung am Neujahrstag 2022 blieb Jona tatsächlich zwei Monate clean, im März wurde er rückfällig. Mittlerweile trank er auch große Mengen Alkohol und steigerte seine tägliche CannabisDosis auf ein bis drei Gramm. Im Sommer 2022 erwirkten seine Eltern einen Gerichtsbeschluss zur neuerlichen Einweisung in die Entzugsklinik. „Doch nach acht Tagen war Jona wieder draußen. Er hatte nicht kooperiert“, sagt seine Mutter. Aufgeben war für sie und Jonas Vater aber keine Option: Sie suchten einen Kinder- und Jugendpsychiater auf, der eine Drogentherapie anbot – doch dazu war Jona ebenso wenig bereit wie zur Unterbringung in einer vollstationären Wohngruppe möglichst weit weg von der Stadt, in der er lebt. „Inzwischen ist Jona so therapieerfahren, dass er das System austricksen kann“, sagt Nora Klein. So wisse er genau, was er etwa Ärzten und Psychiatern entgegnen müsse, um den Eindruck zu erwecken, er sei ein ganz normaler Teenager ohne Suchtprobleme. Doch sobald er Drogen genommen habe, werde er psychotisch, halluziniere, höre Stimmen – und werde aggressiv. „Inzwischen habe ich nicht mehr nur Angst um Jonas Leben, sondern um uns als Familie“, sagt seine Mutter.
Vorzeitig wegen Fehlverhaltens aus Entgiftung entlassen
Wieder ließ Nora Klein nichts unversucht, rückte, wie sie sagt, „den Ämtern auf die Pelle“und erwirkte im November 2022 einen weiteren Beschluss zur Unterbringung im Entgiftungskrankenhaus Stadtroda. Doch Jona torpedierte auch diesen Versuch: Wegen „groben Fehlverhaltens“wurde er nach nur dreieinhalb Wochen aus dem Krankenhaus entlassen. Derzeit wohnt der 16-Jährige bei seinem Vater. Er geht, nachdem er den Abschluss der 9. Klasse geschafft hat, nicht mehr zur Schule, sondern schlägt die Zeit nach Aussage seiner Mutter mit Drogenkonsum und kriminellen Aktivitäten tot.
Nora Klein wirkt verzweifelt, als sie das schildert: Sie verstehe nicht, dass niemand von Amts wegen einschreitet. Nicht die Polizei, die um Jonas kriminelle Machenschaften wisse, nicht das Jugendamt, das aufgehört habe, der Familie zu helfen. Nicht das Gericht, dass ihr bedeutet habe, der Beschluss zur Unterbringung in Stadtroda sei der unwiderruflich letzte gewesen. „Jona ist nicht nur für sich selbst zur Gefahr geworden, sondern auch für andere. Er verkauft schließlich anderen Minderjährigen Drogen“, sagt seine Mutter.
Innerlich sei sie längst zerbrochen. Sie erlebe ein Verlustgefühl, „als wäre mein Sohn gestorben“. Immer wieder fragten sie und Jonas Vater sich, an welcher Stelle sie etwas falsch gemacht, womöglich zu spät interveniert hätten. „Das zerfrisst mich.“Doch sie müsse stark sein, ihren anstrengenden Alltag als Sozialarbeiterin für sich und ihr jüngeres Kind meistern, müsse Grenzen setzen und auf sich selbst achten. Sie dürfe nicht länger ko-abhängig sein, hat Jonas Mutter für sich erkannt. Eine Erkenntnis, die extrem schmerze.
Nora Klein befürchtet, dass es für Jona keine Rettung mehr gibt, wenn alles so wie jetzt weiterläuft: „Ich rechne jeden Tag damit, dass die Polizei vor meiner Tür steht…“