Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Stadtgeschichte im Schnelldurchlauf
Grabungen am Löbertor geben Einblicke in die mittelalterliche Großstadt
Erfurt. Woher das Löbertor seinen Namen hat, belegen anderthalb Zentner Tierknochen, die Archäologen zwischen dem Juri-GagarinRing und der Neuwerkstraße ergraben haben. Die Knochen, hauptsächlich Hornzapfen von Rindern, Schafen und Ziegen, sind Abfälle der Gerbereien, die im späten Mittelalter das Erfurter Handwerk mit Leder versorgten.
„Löber“wird von der Berufsbezeichnung Lohgerber abgeleitet, wobei die Lohe die Brühe bezeichnet, in der die Tierhäute gegerbt wurden. Einige Dutzend Familien gingen dieser Tätigkeit am Löbertor nach, schätzt Erfurts Chef-Archäologe Christian Tannhäuser. „Die Gerbereien bildeten ein Gewerbegebiet am Rande der Stadt“, sagt er.
Tannhäuser steht an der Baugrube, aus der bald ein Parkhaus, ein Supermarkt und ein Hotel in die Höhe wachsen sollen. Im Vorjahr fanden die archäologischen Untersuchungen auf der Baufläche statt. „Für eine so stark überbaute Fläche hatten wir eine enorme Ausbeute“, sagt der Archäologe.
Ihn freut besonders, wie die Funde zusammen die Geschichte der Stadt im Schnelldurchlauf erzählen. „In Erfurt wird gerade viel über die mittelalterliche Großstadt diskutiert“, sagt er. „Das ist genau das, was wir hier haben.“
Auch eine Großstadt fängt einmal klein an, und am Löbertor geschieht dies mit einem Steinzeitmenschen. Die Bestattung, die eine Laboruntersuchung auf 5700 Jahre datiert hat, ist einer der ältesten Befunde in Erfurts Innenstadt überhaupt. Beiliegende Keramikscherben zeigen, dass die Person – ob Mann oder Frau wird noch ermittelt – auch sesshaft war.
Erfurt war einmal ein Feuchtgebiet wie der Spreewald
Warum sollte sie auch nicht? Die Voraussetzungen für die Mittelaltermetropole waren damals schon vorhanden: Der hervorragende Boden garantierte die Versorgung mit Lebensmitteln, die Lage an wichtigen Handelswegen brachte Menschen und Waren aus allen Himmelsrichtungen in die Region. Und es gab reichlich Wasser.
„Erfurt war damals ein Feuchtgebiet mit vielen Nebenadern“, sagt Tannhäuser. „Ich stelle mir es vor wie heute den Spreewald.“
Einladend waren die Bedingungen auch für die Menschen, die im ersten Jahrhundert vor der Zeitrechnung ein Grubenhaus am Löbertor nutzten. Überreste wurden bei der Grabung ebenfalls gefunden, samt Werkzeug und Keramik.
Tannhäuser hält das Grubenhaus für ein Nebengebäude eines der Gehöfte, die zu dieser Zeit und in den folgenden Jahrhunderten entstanden. Aus ihnen bildeten sich mehrere Siedlungskerne, die durch wiederholte Entwicklungsschübe schließlich zur Stadt zusammenwuchsen. „Im 11. und 12. Jahrhundert bildeten sich größere Stadtquartiere, mit Patrizierhäusern in der Mitte und Nebengebäuden“, sagt Tannhäuser.
Auf der Grabungsfläche reichen diese Strukturen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Bald bildete sich auch das Gewerbegebiet mit den Gerbereien heraus. Als lokale Zulieferindustrie produzierten sie Leder etwa für Schuster oder Sattler.
Im Boden überdauert haben riesige Abfallgruben und die zahllosen Schädelknochen. Womöglich wurden die Tierhäute mit Schädeln angeliefert, damit die Gerber an den Hörnern das Alter der Tiere und damit die Qualität des späteren Leders ablesen konnten.
Ein Wirtschaftswunder führte ab dem 14. Jahrhundert zur nächsten Bevölkerungsexplosion. Vergleichbar mit modernen Entwicklungen, wurde der Boden knapp. Da das Gerberviertel an der Stadtmauer zudem für seinen höllischen Gestank berüchtigt war, lag es nun zu dicht am gewachsenen Zentrum. „Das Gewerbe wurde verdrängt, um Wohnbebauung zu ermöglichen“, erzählt Christian Tannhäuser.
Südliche Neuwerkstraße in den 1970er-Jahren abgerissen
Durch das Wachstum der Stadt rückte das Löbertor ab dem 16. Jahrhundert immer tiefer ins Zentrum. Die Blockrandbebauung entstand in der heute zum Teil erhaltenen Kubatur. Der Süden der Neuwerkstraße war bis in die 1970erJahre ähnlich bebaut wie der Norden, bevor die Gebäude von den DDR-Planern abgerissen wurden.
„Der Bauschutt wurde auf der Fläche planiert“, sagt Tannhäuser. „Das war unser großes Glück, denn darunter hat sich alles erhalten.“
Auf Einladung des Vereins für Geschichte und Altertumskunde stellt der Gebietsreferent vom archäologischen Landesamt am 27. Februar 19.30 Uhr im Rathaus die wichtigsten Funde des Vorjahres vor. In seinem Vortrag wird die Grabung vom Löbertor eine Hauptrolle spielen.
Die mittelalterliche Großstadt bestehe nicht nur aus den Leuchtturm-Objekten, meint Christian Tannhäuser. „Wenn Erfurt sich tatsächlich mehr auf das Thema fokussieren will, dann muss auch die Archäologie und Denkmalpflege stärker ins Bewusstsein rücken“, ist er überzeugt.