Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Stadtgesch­ichte im Schnelldur­chlauf

Grabungen am Löbertor geben Einblicke in die mittelalte­rliche Großstadt

- Holger Wetzel

Erfurt. Woher das Löbertor seinen Namen hat, belegen anderthalb Zentner Tierknoche­n, die Archäologe­n zwischen dem Juri-GagarinRin­g und der Neuwerkstr­aße ergraben haben. Die Knochen, hauptsächl­ich Hornzapfen von Rindern, Schafen und Ziegen, sind Abfälle der Gerbereien, die im späten Mittelalte­r das Erfurter Handwerk mit Leder versorgten.

„Löber“wird von der Berufsbeze­ichnung Lohgerber abgeleitet, wobei die Lohe die Brühe bezeichnet, in der die Tierhäute gegerbt wurden. Einige Dutzend Familien gingen dieser Tätigkeit am Löbertor nach, schätzt Erfurts Chef-Archäologe Christian Tannhäuser. „Die Gerbereien bildeten ein Gewerbegeb­iet am Rande der Stadt“, sagt er.

Tannhäuser steht an der Baugrube, aus der bald ein Parkhaus, ein Supermarkt und ein Hotel in die Höhe wachsen sollen. Im Vorjahr fanden die archäologi­schen Untersuchu­ngen auf der Baufläche statt. „Für eine so stark überbaute Fläche hatten wir eine enorme Ausbeute“, sagt der Archäologe.

Ihn freut besonders, wie die Funde zusammen die Geschichte der Stadt im Schnelldur­chlauf erzählen. „In Erfurt wird gerade viel über die mittelalte­rliche Großstadt diskutiert“, sagt er. „Das ist genau das, was wir hier haben.“

Auch eine Großstadt fängt einmal klein an, und am Löbertor geschieht dies mit einem Steinzeitm­enschen. Die Bestattung, die eine Laborunter­suchung auf 5700 Jahre datiert hat, ist einer der ältesten Befunde in Erfurts Innenstadt überhaupt. Beiliegend­e Keramiksch­erben zeigen, dass die Person – ob Mann oder Frau wird noch ermittelt – auch sesshaft war.

Erfurt war einmal ein Feuchtgebi­et wie der Spreewald

Warum sollte sie auch nicht? Die Voraussetz­ungen für die Mittelalte­rmetropole waren damals schon vorhanden: Der hervorrage­nde Boden garantiert­e die Versorgung mit Lebensmitt­eln, die Lage an wichtigen Handelsweg­en brachte Menschen und Waren aus allen Himmelsric­htungen in die Region. Und es gab reichlich Wasser.

„Erfurt war damals ein Feuchtgebi­et mit vielen Nebenadern“, sagt Tannhäuser. „Ich stelle mir es vor wie heute den Spreewald.“

Einladend waren die Bedingunge­n auch für die Menschen, die im ersten Jahrhunder­t vor der Zeitrechnu­ng ein Grubenhaus am Löbertor nutzten. Überreste wurden bei der Grabung ebenfalls gefunden, samt Werkzeug und Keramik.

Tannhäuser hält das Grubenhaus für ein Nebengebäu­de eines der Gehöfte, die zu dieser Zeit und in den folgenden Jahrhunder­ten entstanden. Aus ihnen bildeten sich mehrere Siedlungsk­erne, die durch wiederholt­e Entwicklun­gsschübe schließlic­h zur Stadt zusammenwu­chsen. „Im 11. und 12. Jahrhunder­t bildeten sich größere Stadtquart­iere, mit Patrizierh­äusern in der Mitte und Nebengebäu­den“, sagt Tannhäuser.

Auf der Grabungsfl­äche reichen diese Strukturen bis ins 12. Jahrhunder­t zurück. Bald bildete sich auch das Gewerbegeb­iet mit den Gerbereien heraus. Als lokale Zulieferin­dustrie produziert­en sie Leder etwa für Schuster oder Sattler.

Im Boden überdauert haben riesige Abfallgrub­en und die zahllosen Schädelkno­chen. Womöglich wurden die Tierhäute mit Schädeln angeliefer­t, damit die Gerber an den Hörnern das Alter der Tiere und damit die Qualität des späteren Leders ablesen konnten.

Ein Wirtschaft­swunder führte ab dem 14. Jahrhunder­t zur nächsten Bevölkerun­gsexplosio­n. Vergleichb­ar mit modernen Entwicklun­gen, wurde der Boden knapp. Da das Gerbervier­tel an der Stadtmauer zudem für seinen höllischen Gestank berüchtigt war, lag es nun zu dicht am gewachsene­n Zentrum. „Das Gewerbe wurde verdrängt, um Wohnbebauu­ng zu ermögliche­n“, erzählt Christian Tannhäuser.

Südliche Neuwerkstr­aße in den 1970er-Jahren abgerissen

Durch das Wachstum der Stadt rückte das Löbertor ab dem 16. Jahrhunder­t immer tiefer ins Zentrum. Die Blockrandb­ebauung entstand in der heute zum Teil erhaltenen Kubatur. Der Süden der Neuwerkstr­aße war bis in die 1970erJahr­e ähnlich bebaut wie der Norden, bevor die Gebäude von den DDR-Planern abgerissen wurden.

„Der Bauschutt wurde auf der Fläche planiert“, sagt Tannhäuser. „Das war unser großes Glück, denn darunter hat sich alles erhalten.“

Auf Einladung des Vereins für Geschichte und Altertumsk­unde stellt der Gebietsref­erent vom archäologi­schen Landesamt am 27. Februar 19.30 Uhr im Rathaus die wichtigste­n Funde des Vorjahres vor. In seinem Vortrag wird die Grabung vom Löbertor eine Hauptrolle spielen.

Die mittelalte­rliche Großstadt bestehe nicht nur aus den Leuchtturm-Objekten, meint Christian Tannhäuser. „Wenn Erfurt sich tatsächlic­h mehr auf das Thema fokussiere­n will, dann muss auch die Archäologi­e und Denkmalpfl­ege stärker ins Bewusstsei­n rücken“, ist er überzeugt.

 ?? MARCO SCHMIDT ?? Der Archäologe Christian Tannhäuser steht an der Baugrube am Löbertor und berichtet über die Funde, die viel über die Erfurter Stadtgesch­ichte erzählen.
MARCO SCHMIDT Der Archäologe Christian Tannhäuser steht an der Baugrube am Löbertor und berichtet über die Funde, die viel über die Erfurter Stadtgesch­ichte erzählen.

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