Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Ernste Warnung vor allzu euphorischen Erwartungen
Matthias Gehler erinnert sich an aufregende Zeiten als Regierungssprecher von Lothar de Maizière und berichtet vom Moskaubesuch
29. April 1990: Eine große Delegation der neuen DDR-Regierung unter Führung von Ministerpräsident Lothar de Maizière hält sich in Moskau auf. Es geht um die Einheit, die Nato-Mitgliedschaft und die Frage, wohin sich die bereits im Zerfall befindliche Sowjetunion entwickeln wird. Bei dem entscheidenden Gespräch damals mit dabei ist Matthias Gehler, Staatssekretär und Regierungssprecher. Gehler veröffentlicht jetzt bei Edition Ost ein Buch mit seinen Erinnerungen unter dem Titel „Wollen Sie die Einheit oder nicht?“. Wir drucken hier mit freundlicher Genehmigung in gekürzter Fassung aus Kapitel 5 Auszüge über jenen denkwürdigen Besuch in der Sowjetunion:
Der Sonntag beginnt mit einer Kranzniederlegung am Grabmal des Unbekannten Soldaten. Es folgen ab 9.30 Uhr laut Protokoll drei parallele Ministergespräche.
Rainer Eppelmann trifft sich mit dem sowjetischen Verteidigungsminister Dmitri Jasow. Beim Treffen der beiden Minister kann der Kontrast nicht größer sein – der mit sämtlichen Abzeichen aufgetakelte Uniformträger und frisch gekürte Marschall der Sowjetunion begrüßt den zivil gekleideten Wehrdienstverweigerer und Friedenspfarrer Rainer Eppelmann.
Eppelmann hatte sich noch vor dem Besuch in der Sowjetunion mit seinem Bonner Kollegen Gerhard Stoltenberg am Rhein getroffen, wovon man in Moskau verärgert Kenntnis genommen hatte. Jasow spricht den, aus seiner Sicht, eigenmächtigen Bonn-Besuch direkt an. Die DDR gehöre nach wie vor dem Warschauer Vertrag an, die Sowjetunion als Führungsmacht schätze derlei Alleingänge nicht.
Im Zentrum des Gesprächs der Minister steht die Frage der Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands. Noch schwirren viele Vorschläge, die teils als Testballone gestartet sind, durch die politischen Lager. Jasow stellt grundsätzlich klar, dass ein Nato-Deutschland das Kräfteverhältnis in Europa verschieben und die internationalen Beziehungen destabilisieren werde. Eppelmann greift noch einmal den eigentlich schon ad acta gelegten Vorschlag Schewardnadses von einer Doppelmitgliedschaft in Nato und Warschauer-Vertrag auf. Es gehe darum, eine Kompromissformel
zu finden, die beide Supermächte akzeptieren könnten. In unserer Delegation war abgesprochen worden, in allen Gesprächen von einer sich veränderten Nato auszugehen.
Ein weiteres militärisches Thema ist die Stationierung der Westgruppe der Streitkräfte der UdSSR auf dem Gebiet der DDR. Das bereitet nicht nur finanzielle Sorgen, sondern auch vertragliche. Dem Stationierungsabkommen sind in der Vergangenheit immer wieder unzählige Folgedokumente hinzugefügt worden. Die einzelnen Dokumente sind in alle Winde verstreut und teilweise nicht mal auffindbar. In der Frage der Lufthoheit legt der Oberkommandierende der Sowjetarmee die militärische Nutzung des Luftraums der DDR fest. Die zivile Luftfahrt muss sich danach richten. Außerdem gibt es Probleme bei der Vernichtung der Raketenkomplexe „Oka“, im Westen SS-23 genannt. Die Kurzstreckenraketen waren 1985 in der DDR stationiert worden. Die DDR-Regierung beschloss, die Raketen bis Ende 1990 zu vernichten. Aus ökologischen und aus Sicherheitsgründen war es unmöglich, sie einfach zu sprengen, denn keiner kannte die genaue Zusammensetzung des Raketentreibstoffs. Die Bitte der Amerikaner an uns lautete darum, die Sowjets zu veranlassen, die im Bestand der NVA befindlichen 24 Raketen in der UdSSR vernichten zu lassen. Mit dieser Initiative sollte die DDR eine aktive Mittlerrolle einnehmen.
Für Lothar de Maizière steht nach der Kranzniederlegung bis zum Treffen mit Gorbatschow um 11 Uhr nichts im Protokoll. Also plant er, am Gespräch zwischen den Außenministern Markus Meckel und Eduard Schewardnadse teilzunehmen, um sich auf das Treffen mit Gorbatschow vorzubereiten. Aber daraus wird nichts. Für Lothar de Maizière und seinen engsten Kreis haben die Sowjets plötzlich eine Führung durch den Kreml vorgesehen.
Wir beratschlagen am Eingang des Kremls. Ich biete an, mich mit einem der Delegationswagen ins Außenministerium bringen zu lassen. Nach einer kurzen Diskussion sind die Russen dazu bereit. Mit Blaulicht und zwei zusätzlichen Begleitwagen rasen wir durch Moskau zum Weißen Haus, dem Außenministerium. Ich treffe rechtzeitig ein. Markus Meckel sieht mich und macht einen etwas zerknirschten Eindruck. Er fühlt sich kontrolliert. Eduard Schewardnadse beeindruckt mich. Aus seinen Worten spricht tiefer Ernst. Es sei die verantwortungsvollste Periode in ganz Europa, so seine Ausführungen, und das Schicksal unserer Kinder und Enkel hänge davon ab, welche Beschlüsse in der heutigen Zeit gefasst würden.
Während Markus Meckel immer vom auszuhandelnden 2+4-Vertrag spricht, gebraucht Eduard Schewardnadse feinfühlig nur die Zahl Sechs. Er gibt zu verstehen, dass er allen Verhandlungspartnern den gleichen Rang einräumt, die gleiche Verantwortung und die gleichen Aufgaben bei der außenpolitischen
Lösung der deutschen Einheit zumisst. Er spricht sehr offen über die vielen Besorgnisse, die sie hätten. Und dann warnt er mit heißer, rauer Stimme, für die er sich entschuldigt, die das Ganze aber umso feierlicher macht, vor allzu euphorischen Erwartungen. Noch sei der Rüstungswettlauf auf der Welt nicht gestoppt, militärische Konflikte könnten sich verlagern und die Sicherheitsstrukturen in Europa seien keinesfalls herausgebildet. Man könne lediglich von positiven Tendenzen sprechen, müsse dabei aber immer den Blick auf die Realitäten bewahren.
Das Streben nach Demokratie sei eine wunderbare Sache, was aber, wenn es da und dort nicht klappe, die Umgestaltung nicht funktioniere, die einen den anderen vielleicht voraus wären. Es könnte Frustration auftreten. „Bedeutet das nicht Destabilisierung?“
Dann spricht er von seinem Land: „Fünf Jahre gehen wir schon den Kurs der Umgestaltung. Er ist sehr kompliziert. Wir durchleben, ich sage es ganz offen, schwere Zeiten. Konflikte liegen besonders auf dem sozialen Gebiet. Wir müssen unerwartete Ereignisse einkalkulieren.“Sodann schneidet er Aspekte der wirtschaftlichen Vereinigung Deutschlands an. Schewardnadse geht auf die ökonomische Verknüpfung beider Länder ein und kommt auf die Kernfrage des Staatsbesuchs zu sprechen. Er stellt klar, dass ein Verbleib ganz Deutschlands in der Nato unakzeptabel sei. Ein entscheidender Punkt bei der Lösung dieser Frage wäre, ob das zukünftige Deutschland ein Sicherheitsoder Risikofaktor sei. Er spricht auch die Möglichkeit an, dass ein Gesamtdeutschland „militärisch blockfrei“sein könnte und rein defensiv ausgerüstet werde. Diesen Vorschlag hatte er kurz vor unserem Besuch in einem Interview mit der „Irish Times“gemacht.
Die mit Markus Meckel abgesprochene Haltung der DDR-Seite ist es, daran zu erinnern, dass es aufgrund der Erfahrungen mit der deutschen Geschichte auf keinen Fall ein neutrales, blockfreies Deutschland geben dürfe. Das hat Markus Meckel versucht, der sowjetischen Seite zu vermitteln.
Das Gespräch wird drei Stunden dauern. Ich stehe aber schon – ungeachtet des Protokolls – nach einer reichlichen Stunde vom Verhandlungstisch auf und verlasse den Raum, rufe meine drei Autos herbei und jage zurück zum Kreml. Die Russen haben Order, mit mir Umwege zu fahren, um Zeit zu schinden. In meinem Schulrussisch greife ich ein und bitte nachdrücklich, so schnell wie möglich und geradlinig zum Kreml zu fahren. So gelingt mir der Anschluss an de Maizière, der seinen Kremlrundgang gerade beendet hat.
Den Weg zur Residenz Gorbatschows nutze ich, um den Ministerpräsidenten ausführlich über das zu unterrichten, was die Außenminister besprochen hatten. Zeit ist genügend, denn wir müssen viele Prunksäle durchlaufen und landen dann in einem runden Saal vor dem Arbeitszimmer des Präsidenten.
Als Gorbatschow das Foyer betritt, entdecke ich an seiner Seite einen Herrn, der ebenfalls mit am Verhandlungstisch im Außenministerium gesessen hat und der vorfristig, aber nach mir das Außenministerium verlassen haben muss, um Gorbatschow zu informieren.
„Wollen Sie die Einheit – oder nicht?, Erinnerungen des Regierungssprechers Matthias Gehler“, 224 Seiten, 20 Euro, Edition Ost
Freitag, 19. April, 19.30 Uhr, Haus Dacheröden; Karten gibt es im Internet unter:
Im Zentrum des Gesprächs der Minister steht die Frage der Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands. Matthias Gehler war Staatssekretär und Regierungssprecher bei Lothar de Maizière. Er schreibt über den Moskaubesuch Ende April 1990.