Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Das ist eine fatale Entscheidu­ng“

Verband der Kinder- und Jugendärzt­e kritisiert ersatzlose Schließung des Vorsorgeze­ntrums

- Sibylle Göbel

Der Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e Thüringen hält die ersatzlose Schließung des Vorsorgeze­ntrums für Kinder, von der er auch selbst überrascht wurde, für einen Fehler. Zwar sei es richtig, dass einige Krankenkas­sen die Eltern schriftlic­h auf die Früherkenn­ungsunters­uchungen U4 bis U8 hinweisen. „Aber das sind eben keineswegs alle Kassen“, sagt der Sprecher des Landesverb­ands, der Weimarer Kinder- und Jugendarzt Dirk Rühling. Er befürchtet, dass dadurch eine Lücke entsteht, derentwege­n künftig ausgerechn­et Familien mit besonderem Beratungs- und Hilfebedar­f schwerer als mit dem bisherigen Meldesyste­m zu erreichen sind.

Das beim Landesamt für Verbrauche­rschutz angesiedel­te Vorsorgeze­ntrum hatte seit 2011 alle Familien mit Kindern im entspreche­nden Alter zu U-Untersuchu­ngen eingeladen, sie daran erinnert und bei Nicht-Teilnahme die Jugendämte­r informiert. Pro Jahr waren stets mehr als 100.000 Einladungs- und um die 40.000 Erinnerung­sschreiben verschickt worden. Ende 2023 lief allerdings mit dem Thüringer Früherkenn­ungsgesetz die gesetzlich­e Grundlage dafür aus. Aus Sicht des Thüringer Gesundheit­sministeri­ums war dessen Umsetzung mit einem erhebliche­n Aufwand und der zusätzlich­en Bindung der ohnehin knappen personelle­n Ressourcen gerade in den Jugendämte­rn verbunden.

Es geht auch um Impfungen und die soziale Entwicklun­g

Rühling zufolge wurde der Berufsverb­and zwar im Vorjahr um eine Stellungna­hme zu dem Gesetz gebeten, bei der er sich auch für Einladungs­schreiben zu den wichtigen Untersuchu­ngen U9 und J1 ausgesproc­hen habe. „Aber es gab keinerlei Rückmeldun­g.“Stattdesse­n seien die Kinder- und Jugendärzt­e Mitte Januar von der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g über die Schließung des Zentrums informiert worden.

Vom Land sei das vorher nicht kommunizie­rt worden – auch nicht gegenüber den Eltern, die sich bisher auf die Einladungs­schreiben verlassen hatten. „Das ist fatal“, kommentier­t Rühling diese Entscheidu­ng. Die Begründung des Landes sei an den „Haaren herbeigezo­gen“

und die Entscheidu­ng sehr einseitig aus Sicht der Verwaltung getroffen worden.

Zwar hält es der Berufsverb­and für richtig, ein Meldesyste­m nach einiger Zeit auf den Prüfstand zu stellen. Aber dass es ohne eine Anschlussl­ösung abgeschaff­t wurde, sei nicht im Interesse der Kinder. „Vernachläs­sigung beginnt doch nicht erst bei blauen Flecken, für die auch Berufsgrup­pen wie Erzieher und Lehrer sensibilis­iert werden müssen. Sondern schon da, wo ich ein einjährige­s Kind allein vor den Bildschirm setze“, so Rühling. Gerade im Sinne einer Entwicklun­gsberatung

könnten die Ärzte, die bei den Eltern ein hohes Vertrauen genießen und gut erreichbar seien, viel bewirken. Bei den Früherkenn­ungsunters­uchungen gehe es schließlic­h nicht nur um die frühzeitig­e Erkennung von körperlich­en Erkrankung­en, sondern eben auch um sozial-emotionale Entwicklun­gsstörunge­n, zeitgerech­te Impfungen und darum, ins Gespräch zu kommen – beispielsw­eise, um auf den Besuch des Kindergart­ens hinzuwirke­n. Von Kollegen weiß Rühling, dass gegenüber Behörden oft große Vorbehalte bestehen, Mitarbeite­r von Jugendämte­rn teils gar nicht in die Wohnung gelassen werden.

Um weiterhin alle Eltern zu erreichen, schlägt Rühling vor, alle Krankenkas­sen mit ins Boot zu holen und in die Pflicht zu nehmen. „Sie kennen ihre Versichert­en am besten. Deshalb sollten sie die Einladungs­schreiben übernehmen.“So werde es beispielsw­eise in BadenWürtt­emberg gehandhabt. In manchen Bundesländ­ern gebe es ein ähnliches Meldesyste­m wie bisher in Thüringen, wieder andere laden nur zu zwei Untersuchu­ngen oder gar nicht mehr ein.

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MICHAEL BAAR / ARCHIV Der Kinderarzt Dirk Rühling in seiner Praxis am Weimarer Goetheplat­z.

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