Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Nach der Terrorattacke: Wie sich Wladimir Putin rächen könnte
Der Kreml-Chef zeigt nach dem Anschlag mit dem Finger in Richtung Ukraine. Wird er den Krieg eskalieren – und den Westen testen?
Berlin. Der Terroranschlag auf eine Konzerthalle nahe Moskau hat die Welt erschüttert und wirft viele Fragen auf – vor allem die, wie sich der russische Präsident Wladimir Putin rächen wird.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein islamistisches Attentat handelt?
Viele Indizien deuten darauf hin, dass der IS-Khorasan, ein Ableger der Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS), hinter dem Anschlag steckt. Das Bekennerschreiben des IS wurde auf sämtlichen Propaganda-Kanälen der Islamisten-Gruppierung veröffentlicht. Diese verbreitete auch ein Video, das die Attentäter beim Anschlag in Krasnogorsk zeigen soll. Die Sprache und die Formulierungen entsprächen den Bekennerschreiben vergangener Attacken, sagen Terrorismusexperten.
Welche Ungereimtheiten gibt es?
Die vier Hauptverdächtigen waren offenbar Richtung Ukraine unterwegs. Dies wurde durch ein Video bestätigt, das im Netz kursiert und einen der Attentäter beim Ort Khatsun in der grenznahen russischen Region Brjansk zeigen soll. Der Clip wurde vom kremlkritischen OnlineMedium Meduza geolokalisiert. Dies beweist allerdings nicht, dass die Regierung in Kiew etwas mit dem Anschlag zu tun hat. Es könnte auch sein, dass sich die Attentäter in der Ukraine vor dem Zugriff der russischen Geheimdienste in Sicherheit bringen wollten.
Warum griffen die Attentäter ausgerechnet jetzt an?
Der IS-Ableger IS-Khorasan verübt seine Anschläge nicht als Reaktion auf konkrete Ereignisse. Wichtig ist für die Islamisten die Symbolwirkung. Man habe eine „große Ansammlung von Christen“treffen wollen, hieß es im Bekennerschreiben des IS. Seit etwa einem halben Jahr hat der IS-Khorasan christliche Ziele im Westen im Visier. Das unterstreichen die Anschlagspläne gegen den Kölner Dom vor Weihnachten oder den Wiener Stephansdom.
Weshalb wurden ausländische Geheimdienstwarnungen ignoriert?
Die US-Botschaft in Washington veröffentliche am 7. März einen dringenden Sicherheitshinweis. Ihr lägen Informationen vor, „wonach Extremisten unmittelbar bevorstehende Pläne haben, große Versammlungen in Moskau anzugreifen, darunter auch Konzerte“. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die USA ihre Geheimdienstinformationen über die Gefahr islamistischer Attacken in Moskau mit der
russischen Regierung geteilt. Präsident Wladimir Putin tat diese Warnungen wenige Tage später als westliche „Propaganda“ab, die Russland „destabilisieren“wolle. Für den Kremlchef ist die Parallelität eines extrem aufwendigen UkraineKrieges und islamistischen Terroranschlägen nicht ungefährlich. Er hatte sein Präsidentenamt 2000 mit dem Versprechen angetreten, nach den chaotischen Jelzin-Jahren für Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Zwei Krisenherde bergen für ihn die Gefahr des Kontrollverlusts. Deshalb zeigt er mit dem Finger auf die ukrainische Regierung als Drahtzieherin des Terroranschlags.
Wer sind die Festgenommenen?
Nach Angaben des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB wurden elf Verdächtige festgenommen. Darunter seien die vier Haupttäter des Terroranschlags. In russischen Medien hieß es, die Attentäter stammten aus der ehemaligen Sowjetrepublik Tadschikistan, deren Bevölkerung zu 90 Prozent aus Muslimen besteht.
Warum zeigt Putin auf die Ukraine?
Der Ukraine-Krieg ist für Putin nur ein Schauplatz einer großen Schlacht: Russland kämpft demnach
gegen die Nato und die USA, die die Ukraine mit Waffen vollpumpten. Der Westen wolle Russland vernichten, so Putin. In dieser kruden Logik hat alles, was Russland schadet, seinen Ursprung in der Ukraine, die Putin als „NaziLand“etikettiert. Ein Terrorangriff in Moskau ist für Putin eine Attacke auf seine Legitimität als die Garantie-Instanz für Sicherheit – auch wenn er von Islamisten verübt wurde.
Wie könnte sich Putin rächen?
Die Angriffe gegen die Ukraine werden massiv ausgeweitet. Und Putin könnte höhere Risiken eingehen, um Europa und Amerika zu testen. So hat ein gegen den Westen der Ukraine gerichteter russischer Marschflugkörper nach Angaben aus Warschau in der Nacht zum Sonntag für rund 40 Sekunden den polnischen Luftraum verletzt.
Wie wird der Anschlag Russland verändern?
Die Repressionen werden zunehmen. Putin wird die Anschläge möglicherweise nutzen, um innere Säuberungen einzuleiten. In Moskau wird der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe lauter. Möglicherweise wird eine neue Teilmobilisierung für den Krieg gegen
die Ukraine gestartet.
Verliert Putin den Rückhalt im Land?
Sollte es zu weiteren Terroranschlägen kommen, würde dies an Putins Nimbus als Wahrer von Sicherheit und Stabilität nagen. Die Protestaktionen bei der Präsidentschaftswahl und die demonstrativen Trauerbekundungen am Grab des Regimekritikers Alexej Nawalny zeigten, dass es zumindest Reste von Widerstand im Land gibt. Dennoch steht die Mehrheit der Russen nach Umfragen des unabhängigen LewadaInstituts hinter Putin.
Ist es möglich, dass russische Stellen in den Terrorakt verwickelt sind?
Ausgeschlossen ist nichts. Beweise in diese Richtung liegen allerdings nicht vor. Es gibt jedoch Präzedenzfälle. Ende September 1999 hatte ein Mann im Ort Rjasan beobachtet, wie Unbekannte mehrere Säcke in den Keller eines Hauses trugen. Die Polizei stellte fest, dass sich in diesen Säcken der bei den vorherigen Terrorattacken verwendete Sprengstoff Hexogen sowie ein Zeitzünder befanden. Die Ermittlungen ergaben, dass die Unbekannten Agenten des Inlandsgeheimdienstes FSB waren.