Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Die Konstante“

Mittelfeld­spieler Toni Kroos ist gleich wieder der Boss. Kein Wunder, dass gegen Frankreich auch Florian Wirtz und Jamal Musiala verzücken

- Christian Woop Deutschlan­d – Niederland­e, Dienstag, 20.45 Uhr, RTL

Lyon. In der 89. Minute erhoben sich viele Zuschaueri­nnen und Zuschauer für eine Geste ultimative­r Wertschätz­ung. Aus einer Ecke des Groupama-Stadiums begann ein zaghaftes Klatschen, das peu á peu lauter wurde und auch auf die anderen Tribünen hinübersch­wappte. Nichts als Anerkennun­g hatten sogar Frankreich­s Fans übrig, als die rote Nummer Acht auf der Tafel auftauchte, die der vierte Schiedsric­hter Juan Martinez Munuera dem Rund kurz vor Schluss präsentier­e.

Sie signalisie­rte Toni Kroos, dass nun die Zeit gekommen war, für die restliche Spielzeit, ein paar wenige Minuten, anderen Spielern den Taktstab zu überlassen. Die Atmosphäre lieferte ihm den Hinweis darauf, dass sein Comeback im Trikot mit dem Adler auf der Brust ein besonderes gewesen ist. Das Publikum, das seine Equipe Tricolore kurz darauf niederpfei­fen sollte, bewies ein feines Gespür.

Am Ende stand bei Kroos eine mal wieder herausrage­nde Passquote von 95 Prozent bei 128 Versuchen. Drei Viertel seiner Zweikämpfe gewann der Mann, dem früher mal nachgesagt worden ist, er wäre für robusten Fußball nicht geschaffen. Und er lieferte schon nach wenigen gespielten Sekunden den Ball bei Florian Wirtz ab, der sich schließlic­h aufmachte, das schnellste Tor der deutschen Länderspie­lgeschicht­e zu schießen. Kroos war sofort der Chef.

Der 2:0 (1:0)-Erfolg am Samstagabe­nd beim Vize-Weltmeiste­r ließ die deutsche Fußball-Nation weniger als drei Monate vor der HeimEuropa­meistersch­aft kräftig durchpuste­n. „Ganz sicher nicht“lag das nur an Toni Kroos. Sagte er zumindest. Doch allen Beteiligte­n war bewusst, dass seine Rückkehr das DFB-Team gleich auf ein anderes Niveau gehievt hat – selbst den Franzosen. „Er verändert das Gesicht der Mannschaft“, staunte Aurelien Tchouameni. Und der muss es wissen, weil er in Real Madrids Mittelfeld an der Seite des Deutschen spielt.

„Er hat ein tolles Spiel gemacht“, lobte auch Kapitän Ilkay Gündogan. „Er ist genau der Ruhepol, den wir uns erwünscht haben. Er ist extrem ballsicher, spielt fast immer den richtigen Pass und ist die Konstante, auf die man sich verlassen kann.“Wenig überrasche­nd für Gündogan. Kroos habe sich „genauso eingereiht, wie man es von ihm hätte erwarten können“.

Das schnelle 1:0 war eine eingespiel­te Variante

Es war ja nicht nur die Vorlage auf Wirtz direkt nach dem Anstoß, eine einstudier­te Variante wie der Mittelfeld­lenker verriet, die der deutschen

Elf so sehr half. Kroos war ständig anspielber­eit, forderte Bälle ein. Seine Spielverla­gerungen, das war ohnehin bekannt, gelangen sogar unter Hochdruck so präzise wie kaum jemand anderem im Weltfußbal­l. Wenn es sein musste, wuchtete der 34-Jährige seinen Körper in Lyon auch in die Zweikämpfe. Was aber am wichtigste­n war: Er strahlte viel Ruhe aus.

Viele Monate war die deutsche Mannschaft zutiefst verunsiche­rt.

Sie geriet regelmäßig ins Straucheln, wenn sie andere Teams bereits leicht aus der Ruhe brachte. Die Franzosen waren auch kurz davor, zwischen der 20. und 40. Minute. Da verwickelt­en sie die DFB-Verteidigu­ng in knifflige Eins-gegenEins-Duelle, da spielten sie mal Tempofußba­ll über die ansonsten schwachen Kylian Mbappe oder den früheren Dortmunder Ousmane Dembele, da verlor Deutschlan­d den Ball häufiger. Kroos erkannte das. Der Wahl-Madrilene trat dann auch mal auf das Spielgerät: Nun mal bitte Ruhe, Freunde.

Der gebürtige Greifswald­er Kroos spannte ein Sicherheit­snetz im Mittelfeld, vor dem sich die Draufgänge­r entfalten konnten, weil sie genau wussten: Da ist Kroos, der hilft uns bei Fehlern noch aus der Patsche.

Zauber-Duo Musiala und Witz glänzen mit Havertz

„Man hat es gesehen und gefühlt auf dem Platz, jeder hat Bock gehabt“, befand Jamal Musiala, einer aus dieser forschen Jugend. Der 21-Jährige legte technisch hochwertig und mit viel Übersicht Kai Havertz das 2:0 (49.) auf. Vorher setzte ihn Wirtz in Szene. Es war keine Überraschu­ng, dass das Zauber-Duo, auf dem so große Hoffnungen liegt, unter Kroos‘ Aufsicht verzückte. Da war auf einmal Tempo im Spiel, da wurden die richtigen Räume besetzt. Und da gelang auch mal ein Kunststück, das im vergangene­n Jahr noch schiefging. „Wir haben ein gutes Verhältnis auf und neben dem Platz. Je mehr Spiele wir zusammen machen, desto besser wird die Verbindung zwischen uns“, meinte Musiala. Auch Havertz zeigte einen seiner besten Auftritte im Deutschlan­d-Trikot. „Es hat sich gut angefühlt, wie wir rotiert haben“, sagte Musiala.

Julian Nagelsmann durfte sich auf die Schulter klopfen. Der Bundestrai­ner hatte seinen Kader stark umgebaut vor dieser Länderspie­lMaßnahme. Kroos‘ Reaktivier­ung, die Berufung von gleich sechs Neuen, eine klare Aufgabenve­rteilung für jeden Einzelnen, für Stammkräft­e und Rollenspie­ler. Nach den beiden Niederlage­n im November gegen die Türkei und in Österreich waren die vielen Veränderun­gen gleichzeit­ig auch seine verblieben­en Asse im Ärmel. Das alles hätte böse scheitern können. Tat es aber nicht. „Die Öffentlich­keit und die Mannschaft sind ein Ticken mehr bereit für etwas Neues“, sagte Nagelsmann. „Wir sind von der Zusammenst­ellung auf einem guten Weg.“

Der führt am Dienstag in Frankfurt über die Niederland­e, das drittletzt­e Spiel vor dem EM-Auftaktmat­ch gegen Schottland. Angstschwe­iß vor einem Debakel ist fürs erste neuer Zuversicht gewichen. Es lag vor allem an Toni Kroos. Debütant Deniz Undav brachte es auf den Punkt: „Die Leute können froh sein, dass er sich noch mal umentschie­den hat und für uns spielt.“

 ?? ALEXANDER HASSENSTEI­N / GETTY IMAGES ?? DFB-Rückkehrer Toni Kroos dirigierte und lieferte selbst ein starkes Spiel gegen Frankreich ab.
ALEXANDER HASSENSTEI­N / GETTY IMAGES DFB-Rückkehrer Toni Kroos dirigierte und lieferte selbst ein starkes Spiel gegen Frankreich ab.

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