Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Weniger Kinder: Druck auf Tagesmütter steigt
Es gibt wieder freie Plätze in Erfurt. Doch die Betreuer müssen die Folgen der sinkenden Geburtenzahlen ausgleichen
„Ich traue mich gar nicht, krank zu sein.“Angela Scheller sagt diesen Satz sehr leise. Doch er ist bezeichnend für das, was jeden Selbstständigen umtreibt. Ist man krank, wird kein Geld verdient. Ist eine Tagesmutter krank, können zudem die Kinder von ihr zumindest nicht betreut werden.
Ein gescheites Vertretungsmodell muss her, das ist die Forderung der Erfurter Kindertagespflege. Angela Scheller ist die Vorsitzende des Vereins. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen und um auf die Möglichkeiten der Kindertagespflege überhaupt aufmerksam zu machen, findet am heutigen Mittwoch, 17. April, ein Sternenlauf vom Anger (16 Uhr) über den Fischmarkt bis zum Domplatz statt.
Ein solcher Lauf wird jährlich im Mai durchgeführt. „In diesem Jahr ist er bereits im April, da wir uns vom 15. bis 21. April an der deutschlandweiten Aktionswoche zu 50 Jahre Kindertagespflege beteiligen“, sagt Angela Scheller. Und benennt noch ein zweites Datum: Am Samstag, 20. April, wird von 14 bis 17 Uhr in das „Pädagogische Institut Erfurt“in der Schillerstraße 26 zum Infotag eingeladen. Es gibt Vorträge zur Kindertagespflege, zur Antragstellung, zu den Kosten und zur Eingewöhnung. Individuelle Gespräche mit Tagesmüttern sind möglich.
Fünf Kinder pro Tagesmutter
In Erfurt besteht für Eltern ein Wunsch- und Wahlrecht, das heißt, sie können frei wählen, ob sie ihr Kind in einer Kindertagesstätte oder bei einer Tagespflegeperson betreuen lassen wollen. „Unsere Vorteile“, sagt Katja Keichel, die als Tagesmutter mit Angela Scheller zusammenarbeitet, „sind die bessere Bindung für die Kinder, kleinere Gruppen, die familiäre Atmosphäre und eine höhere Individualität.“Die Kinder hätten eine feste Bezugsperson und auch für die Eltern sind der Austausch und der Kontakt mit der Betreuungsperson enger. Eine Tagesmutter darf allein maximal fünf Kinder betreuen.
In den vergangenen Jahren war es für viele Eltern nahezu wie ein Sechser im Lotto, einen Betreuungsplatz zu bekommen, vor allem in gewünschter Nähe. Das wird sich in den kommenden Jahren ändern. Die Zahl der Kinder mit Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz sinkt seit 2021. Gründe für diesen
Rückgang, so heißt es in der KitaBedarfsplanung bis 2025, sieht die Abteilung Statistik und Wahlen vorrangig im Wegzug von Familien in das Erfurter Umland sowie im Rückgang der Geburten.
97 freie Plätze bei unter Dreijährigen
„Wir spüren jetzt schon in der Kindertagespflege den Kindermangel“, berichtet Angela Scheller. Einige Tagesmütter haben aufgehört, manche auch altersbedingt. „Vor zwei Jahren waren wir noch über 80, nun sind wir 56.“Sie nennt noch einige Zahlen: „In den vergangenen sieben Monaten gab es in der Kindertagespflege 97 freie Plätze bei den Null- bis Dreijährigen.“Und auch in den Kitas ist das Gedränge um einen Platz nicht mehr so groß. Erste Einrichtungen werden bald ihr Personal in den Stundenzahlen herabsenken, um den Rückgang auszugleichen.
Thomas Trier leitet das Jugendamt in Erfurt. 109 Kitas gibt es in der
Stadt, in kommunaler und freier Trägerschaft. „Es ist noch nicht so dramatisch wie in manchen Landkreisen, aber ja, wir werden auch handeln.“Einige Jahre war für einige Kindertagesstätten die Betriebserlaubnis angepasst und damit die Zahl der betreuenden Kinder erhöht worden. „Diese Kapazitätenerhöhung passen wir nun nach unten an. Dann sind wir nicht mehr in einer Überkapazität, sondern auf Normalmaß.“Man müsse das eher positiv sehen, es gebe die Chance, mal durchzuatmen und die Qualität der Betreuung zu gestalten. Das Augenmerk liege auf Sanierung bestehender Kitas, Neubauten gebe es vorerst keine.
Für die Tagespflegepersonen bedeutet der Geburtenrückgang Risiko. Fixkosten wie Miete laufen weiter, egal ob zwei oder fünf Kinder betreut werden. Das Jugendamt zahlt der Tagesmutter Entgelt für jedes Kind, das sie betreut. Die Höhe der Gebühr richtet sich nach dem Einkommen der Eltern und wird genauso
berechnet wie für einen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte. Werden nur vier Kinder betreut, gibt es auch nur Geld für vier Kinder. „Der Druck ist immens“, sagt Angela Scheller. Die Tagesmütter haben keinen Spielraum, den Kindermangel auszugleichen.
Vertretungsmodell wird gefordert
Kommen dann noch Unwägbarkeiten wie eine Erkrankung hinzu, steigt der Druck. „Wir brauchen ein Vertretungsmodell. Bisher läuft das auf Zuruf, wer hat einen Platz frei, das ist reiner Zufall. Das Kind kennt möglicherweise die Vertretung nicht, die Eltern haben einen noch längeren Weg. Wir werben dafür, dass das anders organisiert wird“, sagt Angela Scheller. Der Vorschlag könnte dem Model in Gera folgen: Einen Vorhalteplatz freigeben, also fünf Kinder bezahlt bekommen und nur vier betreuen. Der fünfte Platz wäre der Vertretungsplatz. „Oder eine feste Einrichtung, die die Kinder
aufnimmt, wenn die Tagesmutter erkrankt“, meint die Vereinsvorsitzende. Die Tagesmütter stünden dazu im Kontakt mit dem Jugendamt.
Thomas Trier wird am Mittwoch auch zum Sternenlauf kommen und am Fischmarkt mit den Tagesmüttern sprechen. Vorab sagte er auf Anfrage unserer Zeitung: „Im vergangenen Sommer fand die Gesetzesnovellierung statt, diese betrachtet auch die Vergütung und die Vertretungsfrage. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit gegeben, wir begleiten als Kommune den Prozess. Aber der Vorschlag muss von den Tagesmüttern kommen. Wir geben keine Blaupause vor. Und wir schauen dann, was ist im rechtlichen Rahmen möglich.“Er bestätigt, dass es eine Vertretungsregelung brauche. Vielleicht könne man in Gesprächen eine Lösung finden und Synergien schaffen. Die zuständige Fachabteilung im Jugendamt, betont Thomas Trier, stünde zur Verfügung.