Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Experiment mit ungewissem Ausgang
Sechs Bewerber um Oberbürgermeisteramt stellen sich den kritischen Fragen von 140 Schülern
Erfurt. Was finden Sie an ihren Mitbewerbern toll?, will die 16-jährige Rania wissen. Die Frage ist charmant und zugleich wohl die schwierigste an die Runde. Das eigene Programm können die OB-Kandidaten im Schlaf herbeten, die Mitbewerber finden darin in der Regel keinen Platz. Immerhin, am Ende wusste jeder etwas Nettes über seinen Tischnachbarn zu sagen, und sei es das Verbindende der Frisur wie zwischen Andreas Horn (CDU) und Stefan Möller (AfD).
So harmlos ging es freilich nur selten zu beim Kandidaten-Forum am Montagvormittag im Rathausfestsaal. 140 Schülerinnen und Schüler waren gekommen, Neunt- und Zehntklässler, viele von ihnen Erstwähler, fast jeder hatte Fragen mitgebracht, von denen nur eine kleine Auswahl tatsächlich behandelt werden konnte. Es war die Probe aufs Exempel: Wie sehr treffen die Bewerber mit ihren Programmen tatsächlich den Nerv der Jugendlichen?
Von Sicherheit bis Digitalisierung
Das Themenfeld war weit gespannt, die Fragen trafen tatsächlich stets den Kern von Kommunalpolitik: Was wollen die Politiker dafür tun, dass sich Jugendliche nachts ohne Angst durch die Stadt bewegen können? Werden sie eine bezahlbare Wohnung finden, wenn sie demnächst das Elternhaus verlassen? Wo sollen sie nachts feiern, ohne ständig in Konflikt mit Anwohnern zu kommen? Wie kommen sie auch ohne Auto aus der Stadt, etwa zum
Baden am Alperstedter See? Wann gibt es endlich schnelles Internet an allen Schulen?
Die optimistische Diagnose: Vieles von dem, was die Schülerinnen und Schüler umtreibt, ist auch Thema der Stadtpolitik. Kein Kandidat ist da, der die steigenden Mieten in der Stadt nicht für ein Problem hält. Kaum einer, der nicht vom Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs redet.
Über das Ziel eines Gratis-Evag-Tickets für Kinder und Jugendliche herrscht beinahe Einigkeit.
Über öffentliche Sicherheit und vor allem ein verträgliches Nachtleben machen sich alle Gedanken, auch wenn Diagnose und Rezepte unterschiedlich sind. Da geht es um Videoüberwachung längst nicht mehr nur am Anger, um nächtliche Party-Begleiter, die die Stadt demnächst
in einem Pilotprojekt losschicken will. Es geht um die zunehmende Trennung von armen und reichen Stadtvierteln, der entgegengewirkt werden müsse, um das Eingeständnis, dass die Idee eines Partyplatzes am Lutherstein in Stotternheim wohl lehrreich, aber unpraktikabel ist.
Dass die Schülerfragen so zielgenau die wunden Punkte der Stadtpolitik trafen, lag sicher nicht nur an der ernsthaften Vorbereitung auf dieses Podium in den Wochen zuvor.
Neben Schülern der Jenaplanund der Schillerschule nahmen vor allem Jugendliche aus der Otto-Lilienthal-Schule an dem Forum teil, einer Gemeinschaftsschule im Rieth. Jeder dritte von ihnen hat einen Migrationshintergrund, die sozialen Probleme des Viertels gehören zum Alltag. Ihr Sozialkundelehrer David Wenke gab den Anstoß zu diesem Experiment, Unterstützung fand er beim Bildungsministerium, bei der Landeszentrale für politische Bildung, bei der Stadtverwaltung.
Am Ende sollten die Schüler abstimmen. Zur fairsten Diskutantin kürten sie Jana Rötsch, die einzige Frau im Kandidatenfeld, die für die Fraktion Mehrwertstadt antritt, dicht gefolgt von Amtsinhaber Andreas Bausewein (SPD). Die größte Sachkompetenz maß eine Mehrheit der Teilnehmer Baudezernent Matthias Bärwolff (Linke) zu, aber auch sein Konkurrent Andreas Horn (CDU), dem Sicherheitsbeigeordneten, erhielt gute Noten.
Sie sei überrascht, wie ernsthaft sich alle Kandidaten mit den Schülerfragen auseinandersetzten, sagt anschließend die 16-jährige Rania, die wohl mehr Politikerworthülsen erwartet hatte. Etwas mehr Raum für Rückfragen und Debatten hatte sich Karlson, ebenfalls 16 Jahre alt, erhofft, doch dafür waren die 90 Minuten am Ende zu knapp bemessen. Ein starkes Stück politische Bildung konnten die Teilnehmer im Rathausfestsaal allemal erleben – lehrreich für alle Beteiligten.