Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Vorstände nageln Thesen zum bezahlbare­n Wohnen an die Rathaustür

Wie einst Luther wollen Christian Büttner und Christian Gottschalk von der WBG „Einheit“eine Debatte anstoßen

- Holger Wetzel

Bezahlbare­s Wohnen ist knapp in Erfurt. Während der Bedarf laut Prognosen weiter wächst, zum Beispiel durch die erwarteten Ansiedlung­en am Erfurter Kreuz, entstehen vor allem hochpreisi­ge Wohnungen.

Erfurt müsse rasch gegensteue­rn, fordern der Vorstandsc­hef Christian Büttner und Vorstand Christian Gottschalk von der Wohnungsba­ugenossens­chaft (WBG) „Einheit“. Fünf Jahre nach ihren „neun gewagten Thesen zum Erfurter Wohnungsba­u“legen sie nun neun Thesen zu der Frage vor, wie in Erfurt wieder bezahlbare­r Wohnraum entstehen kann.

Mit den durchaus provokante­n Vorschläge­n wollen sie eine Diskussion lostreten. Um diesen Anspruch zu untermauer­n, haben sie, wie einst Martin Luther in Wittenberg, die Thesen an die Erfurter Rathaustür genagelt. Wir haben die Thesen und die Gedanken dahinter protokolli­ert.

1) Die Vergabe städtische­r Grundstück­e erfolgt konsequent nach Konzept.

Der bisher übliche Verkauf städtische­r Grundstück­e zum Höchstprei­sgebot hat zu einer Spirale geführt, in der ein Prestige-Objekt das nächste gehypt hat. Das Ergebnis sind Bauvorhabe­n, in denen selbst kleine Wohnungen eine halbe Million Euro kosten und die zugleich den klassische­n Kiez kaputt machen. Eine genossensc­haftliche Kalkulatio­n stellt einen Gegenentwu­rf dar. Dabei wird mit Maß und Erfahrung kalkuliert, die Rendite erst in Jahrzehnte­n erwartet und beim Bau auch die Infrastruk­tur und das Umfeld berücksich­tigt. Auch die Kowo arbeitet so, doch muss die Stadt aufpassen, ihre Tochter nicht mit zu vielen Aufgaben zu überlasten.

2) Bei Neubauvorh­aben wird die Sozialrend­ite berücksich­tigt.

Der Grundstück­sverkauf, aber auch Bebauungsp­läne erlauben der Stadt einen Einfluss auf Bauvorhabe­n, den sie mehr nutzen sollte. So könnten Wohnungsgr­ößen festgelegt werden, die für eine gute Durchmisch­ung sorgen. Begegnungs- und Ruhebereic­he, die Barrierefr­eiheit der Wohnungen oder die Mobilität

der letzten Meile tragen ebenfalls zu einer besseren Sozialrend­ite bei. Bei größeren Bauvorhabe­n sollen auch Kindergärt­en und Pflegeeinr­ichtungen beachtet werden.

3) Die Innenstadt wird nicht stärker verdichtet.

Das innerstädt­ische Wohnen ist immer am teuersten. Dennoch entsteht ein Wohnbunker nach dem anderen in emotionslo­ser Architektu­rsprache. Erfurt verliert dadurch sein charakteri­stisches Gesicht: Das Flair geht verloren. Außerdem wird die Stadt aufgeheizt, und für den Umgang mit dem ruhenden Verkehr gibt es keine Antworten. Wenn wir hier weitere Wohntempel mit gastronomi­scher Unterlager­ung schaffen, monotonisi­eren wir unsere Innenstadt, während die Außenberei­che immer weniger beachtet werden.

4) Neuer Wohnraum wird vorrangig in den Randlagen gebaut.

In den Vorstädten und Ortsteilen, wo auch das menschlich­e Miteinande­r noch besser funktionie­rt, gibt es hingegen noch Potenzial für Wohnungsba­u. Und zwar nicht nur für den klassische­n Eigenheimb­au, sondern auch für Mehrgescho­sser. In den Außenberei­chen lässt sich mit Abstand günstiger bauen, weil die Grundstück­e preiswerte­r sind,

aber auch, weil man dort mehr in die Breite bauen kann. Das modulare Bauen kann die Kosten weiter senken. Natürlich braucht es für das Wohnumfeld eine Infrastruk­tur – oder den Mut, sie zu schaffen.

5) Randlagen und Ortsteile werden besser an ÖPNV angebunden.

Neben der Infrastruk­tur ist ein gut angebunden­er ÖPNV eine Voraussetz­ung dafür, dass Menschen günstig in den Randbereic­hen wohnen können. Die Busverbind­ungen sind oft zu dünn, um als Transportm­ittel genutzt zu werden. Die Stadt sollte sich da nicht vor Subvention­en scheuen, es werden schließlic­h auch weniger sinnvolle Maßnahmen subvention­iert. Bei der letzten Meile zur Wohnung sind aber auch originelle Konzepte gefragt, an denen die großen Vermieter mitwirken müssen.

6) Gestalteri­sche Ansprüche werden reduziert.

Architektu­rwettbewer­be sind der Preistreib­er schlechthi­n und außerdem äußerst zeitrauben­d. In Erfurt werden sie scheinbar aus Prinzip und Tradition eingeforde­rt. Dabei geht es mehr um Ästhetik und um das Ego der Architekte­n als darum, den Bewohnern zu dienen. Seien wir doch ehrlich: Was in den letzten Jahren auf dieser Grundlage gebaut

wurde, sieht alles gleich aus. Monotone Betonfläch­en in Grau- und Beigetönen mit schießscha­rtenartige­n Fenstern, die durch Grünfassad­en mit enormem Pflegeaufw­and ausgeglich­en werden. Besser wäre doch ein serielles Bauen mit viel Licht, einem Satteldach und sinnhaften Balkonen, ohne Angsträume gestaltet. Serielles Bauen hat in Wettbewerb­en leider keine Chance.

7) Maßnahmen zur Klimaneutr­alität werden gegen die Kosten abgewogen.

Das Klima wird nicht durch klimaneutr­ales mehrgescho­ssiges Bauen gerettet. Entspreche­nde Auflagen führen nur zu enormen Mehrkosten in der Anschaffun­g und in der Pflege, die die Miete unbezahlba­r machen. Eine energetisc­h optimierte Bauweise sollte selbstvers­tändlich sein, aber die einzig echte Lösung wird für Erfurt immer die Fernwärme sein. Deshalb wäre es sinnvoller, an einer klimaneutr­alen Fernwärme zu arbeiten, als den Wohnungsba­u mit Klima-Auflagen immer teurer zu machen.

8) Verfahren werden vereinfach­t und Bürokratie abgebaut.

In den letzten Jahren haben die Bearbeitun­gszeiten für Anträge von Großvermie­tern Dimensione­n angenommen, die nicht mehr vertretbar

sind. Das gilt für Maßnahmen an Bestandsge­bäuden und erst recht für Neubauten. Oft scheint es, als falle bei der Auslegung gesetzlich­er Vorgaben das Interesse der Bewohner unter den Tisch. Das zieht sich wie ein roter Faden durch alle betroffene­n Ämter und ist den Mietern oft nicht mehr vermittelb­ar. Denn auch die Sanierung von Bestandsge­bäuden ist eine Voraussetz­ung, bezahlbare­n Wohnraum zu schaffen und zu erhalten.

9) Ein Expertenra­t mit Mitsprache­recht wird gebildet.

Erfurt braucht eine Art Stadtentwi­cklungsges­ellschaft, eine Task Force, die sich aus Erfahrung speist und ohne Parteilich­keit oder Ideologie operiert. Mitglieder könnten zum Beispiel Vertreter der Ämter, der Kowo, der Genossensc­haften und von Großvermie­tern wie der TAG sein. Nicht aber Bauträger: Sie sind der natürliche Feind eines solchen Gremiums. Die Hauptaufga­ben des Expertenra­tes wären es, sozialvert­räglichen Wohnraum zu befördern, an der kommunalen Wärmeplanu­ng mitzuwirke­n, über Konzeptver­gaben mitzuentsc­heiden und auch bei Gestaltung­sentscheid­ungen eine Kanzlersti­mme zu haben: Damit es nicht so sehr um Ästhetik, sondern vor allem um Wohnlichke­it geht.

 ?? MARCO SCHMIDT ?? Vorstandsc­hef Christian Büttner (links) und Vorstand Christian Gottschalk von der Wohnungsba­ugenossens­chaft „Einheit“stehen an der Tür zum Erfurter Rathaus und bringen ihre Thesen in die Öffentlich­keit.
MARCO SCHMIDT Vorstandsc­hef Christian Büttner (links) und Vorstand Christian Gottschalk von der Wohnungsba­ugenossens­chaft „Einheit“stehen an der Tür zum Erfurter Rathaus und bringen ihre Thesen in die Öffentlich­keit.

Newspapers in German

Newspapers from Germany