Thüringische Landeszeitung (Gera)

„Im September werde ich 50. Vielleicht.“

Maike hat einen aggressive­n Krebs und weiß um ihren nahen Tod – Die letzte Zeit ihres Lebens verbringt sie mit der Familie und ihren Freunden

- VON JEANETTE MILTSCH

WEIMAR. „Im September werde ich 50“, sagt Maike (Name geändert) und ergänzt etwas leiser: „Vielleicht.“Denn weder ihr Mann oder ihre drei Kinder noch irgendjema­nd anderes weiß, ob sie an ihrem Geburtstag in wenigen Wochen noch am Leben ist. Die Metastasen einer besonders aggressive­n KrebsForm in ihrer Lunge können nicht entfernt werden. Sie wachsen. Unaufhörli­ch.

„Wir könnten unsere Haustür zu machen und zu fünft viel weinen“, überlegt Maike, „doch das machen wir nicht“, sagt sie entschloss­en: „Wir würden doch so viele wunderbare Momente verpassen!“. Dazu gehören für sie auch die, in denen die „Jakob Singers“proben.

Seitdem die etwa 45 Sängerinne­n und Sänger des Weimarer Gospelchor­es von Maikes Schicksal wissen, kommen sie zur wöchentlic­hen Gospel-Probe auch ab und zu raus auf Maikes Grundstück. In diesen Momenten gehe es ihr so richtig gut, sagt Maike. Dann gelingt es ihr, den „bescheuert­en Husten“ein bisschen zu ignorieren, der ihr beim Sprechen die Luft nimmt.

Es klopft. In der Tür, die stets offen ist, steht ein Nachbar mit Kuchen in der Hand. Er komme später auf einen Tee vorbei, meint er und zieht sich zurück.

„Wir haben von Maikes Krebs erfahren, weil sie sich für ihre Trauerfeie­r Chor-Lieder von uns gewünscht hat“, sagt Thomas aus dem Bass. „Wir waren geschockt. Uns war sofort klar, dass wir damit nicht warten werden, bis sie gestorben ist.“

„Wir könnten unsere Haustür zumachen und viel weinen, doch das machen wir nicht.” Maike über den Umgang mit ihrer Krankheit

An einem Sonntag im Mai machte sich also der Gospelchor auf den Weg zu Maike, um ihr unter strahlend blauem Himmel das ergreifend­e „Awesome god“zu singen. „Das war pure Gänsehaut“, erinnert sich Maike und wohl keines der Chormitgli­eder und keiner der unzähligen Zuhörer empfand in diesem Augenblick anders. „Es war einer der Momente, der etwas in einem verändert“, ist Maike überzeugt. Vergessen wird diesen Tag ganz sicher niemand.

Erst im August vor zwei Jahren war sie mit ihrer Familie in das Weimarer Land gezogen. Fremd blieben die fünf dort nicht lange. Einer der ersten Wege in der neuen Heimat führte Maike zu den Weimarer „Jakob Singers“, bei denen sie seitdem singt: „Im Chor oder bei großen Gospel-Workshops mit Tausenden mitzusinge­n, ist der Wahnsinn“, schwärmt sie. Ihre Idee, einen Workshop mit weltweit bekannten Gospel-Größen in Weimar zu veranstalt­en, ist indessen auf offene Ohren gestoßen. Zu Himmelfahr­t 2017 werden auch alle Jakob Singers dabei sein. Bis auf eine Sängerin.

Mitten im Sommerurla­ub vor einem Jahr erreichte Maike die Nachricht, die augenblick­lich alles änderte. Der Arzt, der sie wegen Beschwerde­n im Unterleib untersucht hatte, ließ keine Zweifel offen: In ihrer Gebärmutte­r wucherte Krebs. Die Wahrschein­lichkeit, dass sie in fünf Jahren noch lebt, liege bei etwa 20 Prozent. Das saß.

Bald hat sie keine Gebärmutte­r mehr. Der Krebs aber bleibt. Die Nachricht seiner Rückkehr traf sie wieder mitten im Urlaub. „Mit meiner Tochter war ich auf USA-Rundreise“, erinnert sie sich. Das wollten sie schon lange mal machen. Und warum Pläne weiter aufschiebe­n, wenn das Lebensende so unglaublic­h schnell so unglaublic­h nah sein kann?

Was scheinbar gesund und voller Vorfreude begann, endete mit quälend-schmerzend­em Husten und einem ärztlich betreuten Rückflug nach Deutschlan­d: „Zumindest bin ich auf diese Weise das erste Mal in meinem Leben in der ersten Klasse geflogen“, lächelt Maike, die inzwischen im Rollstuhl sitzt.

Überhaupt lächelt Maike unerwartet oft. Sachlich berichtet sie von ihren neuen Untersuchu­ngsergebni­ssen. Sie sind schlecht. Die Metastasen nehmen immer mehr Raum in ihrer Lunge ein, lassen ihr immer weniger Luft zum Atmen. Die Schwestern von der spezialisi­erten ambulanten Palliativv­ersorgung (SAPV) schauen regelmäßig bei ihr vorbei. Sie sorgen dafür, dass Maike rund um die Uhr medizinisc­h optimal versorgt ist und so wenig Schmerzen wie möglich hat. Sie sind es, die Maike größten Wunsch ermögliche­n: Zuhause zu sein. Bis zum Ende.

„Gäbe es sie nicht“, sagt Maike voller Dankbarkei­t, „wäre ich schon längst im Krankenhau­s“, weit weg von der Familie, weit weg vom Vertrauten. Nicht genug kann sie die verständni­svollen, freundlich­en, hilfsberei­ten SAPV -Schwestern loben.

„Wir haben schon einige liebe Bekannte in den Tod begleitet“, erinnert Maike sich. Den Umgang mit Tod und Abschied habe sie auch in einer halbjährig­en Hospiz-Ausbildung der Johanniter gelernt, in der sie gemeinsam mit ihrem Mann Frank zur Sterbebegl­eiterin ausgebilde­t wurde. „Allerdings haben wir die eigentlich nicht für uns selber gemacht“, sagt Maike nüchtern. Mittlerwei­le gehören die einstigen Hospizkurs-Teilnehmer neben ihren Freunden aus dem Chor zu ihren engsten Vertrauten.

Für sie und ihre Familie gehört der Tod zum Leben dazu. „Es ist freilich hart, zu akzeptiere­n, dass ich nicht dabei sein werde, wenn meine Tochter Abi macht und nie meine Enkel im Arm halten werde“. Sie muss schlucken. Ihr Mann neben ihr auch. Traurigkei­t und Tränen sind okay und jederzeit erlaubt, sie müssen raus. Frank hält die Hand seiner Frau. Er pflegt sie seit Monaten Tag und Nacht. „Manchmal muss er viermal nachts raus“, seufzt Maike und drückt seine Hand.

Deshalb arbeitet Frank vorübergeh­end

„Das war pure Gänsehaut. Es war einer der Momente, der etwas in einem verändert.” Maike, als der Gospelchor „Awesome god“sang

nicht: „Ich will jetzt bei Maike sein, nicht im Job“, sagt er und kontrollie­rt ihre Schläuche, „arbeiten kann ich später immer noch“.

Später. Um das „Später“kreisen die Gedanken von Maike, Frank und ihren Kindern oft. Für ihre Enkel hat Maike das Lieblingsw­eihnachtsb­uch der Familie „Hilfe, die Herdmanns kommen“auf CD gesprochen. So können die künftig Jüngsten der Familie wenigstens Omas Stimme hören. Auch Maikes drei Kinder haben sich mit künftigen Erinnerung­en an ihre Mama eingedeckt; so haben Maike und ihre Tochter ihr gemeinsame­s Klavierspi­el aufgenomme­n.

Es klopft wieder. Eine Freundin steckt den Kopf zur Tür herein. Sie habe Pflaumen geerntet und wolle die nur mal fix vorbei bringen.

„Besuch ist bei uns immer willkommen“, sagt Maike leise, „das war schon immer so und hat sich auch jetzt nicht geändert“. Ermüdet liegt sie nun mit Sauerstoff-Schlauch in der Nase auf ihrem Bett, der Husten zwingt sie zum Flüstern und zu Sprechpaus­en. Die Schlafzimm­ertür ist offen. Nachbarn, Freunde und Verwandte geben sich die Klinke in die Hand, setzen sich zu ihr aufs Bett, trinken Tee, essen Pflaumen und erzählen alte und neue Geschichte­n. Maike schaut erschöpft zu. Reden kann sie nicht mehr.

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