Thüringische Landeszeitung (Gera)

Europas Wartesaal: Im Lager der Verzweifel­ten

Das Versagen in der Flüchtling­skrise zeigt sich in „Hotspots“wie auf Lesbos

- VON CHRISTIAN UNGER

LESBOS. Abraham steigt durch das Loch im Maschendra­htzaun in die Freiheit, die an diesem Morgen nicht mehr ist als eine Steckdose an einem Plastiktis­ch und ein Becher Tee. Mit dem Strom lädt er sein Handy auf, mit dem Tee den Akku im Körper. Die letzten Tage hat er kaum geschlafen.

Abraham nennt das Lager hinter dem Zaun nur „Gefängnis“. 4000 Menschen harren dort aus in Zelten und Containern. Die EU nennt das Lager „Hotspot“, weil hinter dem Zaun auch Container stehen, in dem sich Menschen wie Abraham registrier­en lassen sollen, nachdem sie ihr Leben auf dem Meer in Schlauchbo­oten riskiert und nach der Fahrt von der Türkei aus europäisch­en Boden betreten haben. Wenn es gut für sie läuft, bekommen sie Asyl. Für Abraham läuft es schlecht.

Er kommt aus Eritrea, seit fünf Monaten wartet er auf der griechisch­en Insel Lesbos. Er hatte noch keine Anhörung, kein Verfahren, kein Asyl, keine Abschiebun­g. Abraham sagt: „Sie behandeln uns wie Tiere.“

Anfang dieser Woche schossen Flammen in den Nachthimme­l, Zelte brannten im Lager. Menschen flohen auf die umliegende­n Hügel, einige brachte die Polizei in andere Lager.

Abraham sagt, es habe eine Demonstrat­ion im Lager gegeben. Es gab Gerüchte über Abschiebun­gen in die Türkei, so erzählen es auch andere. „Das ging gut, bis ein paar Leute den friedliche­n Protest gebrochen haben“, berichtet ein Afghane. Erst flogen Steine, dann brannten Mülltonnen. Später Dutzende Zelte. Erst machten Polizisten wenig, dann schossen sie Tränengas. Nicht zum ersten Mal bricht Feuer in dem Lager aus. Nicht zum ersten Mal gehen Männer aufeinande­r los. Und niemanden hier überrascht das.

„Es fehlt an Sicherheit in diesem wie in vielen anderen Lagern. Wir haben immer gefordert, die Sicherheit zu erhöhen. Und es fehlt an klaren Angaben für die Flüchtling­e, wann sie wie Asyl beantragen können und wie lange die Fristen sind“, sagt Roland Schönbauer vom UNFlüchtli­ngshilfswe­rk.

Suhail, ein Mann aus Pakistan, Ende 40 und Arzt, erzählt. „Jeden Tag gibt es Makkaroni oder Reis.“Viele schlafen auf dünnen Decken, vor dem Registrier­ungszentru­m diskutiere­n Flüchtling­e mit Beamten, sie trennt ein meterhoher Zaun. Suhail lebe schon sechs Monate im Zelt auf Lesbos, sagt er.

Seitdem die Balkanrout­e geschlosse­n ist und der Pakt mit der Türkei gilt, kommen deutlich weniger Menschen per Schlauchbo­ot nach Griechenla­nd. Doch die Insel ist voll, denn die Griechen schicken die Flüchtling­e nicht mehr einfach weiter auf das Festland. Registrier­ung, Fingerabdr­ücke, Anhörung, Asylverfah­ren – das alles soll sich jetzt hier entscheide­n. Seit März sind laut griechisch­em Innenminis­terium 46 Syrer freiwillig zurückgega­ngen in die Türkei. Fast alle legen gegen Abschiebun­g vor Gericht Widerspruc­h ein.

Die EASO, die Europäisch­e Asyl-Agentur, hilft den griechisch­en Beamten. Gemeinsam mit dem UNHCR registrier­ten sie im Sommer 28 000 Flüchtling­e, eine Art Vorsortier­ung, damit die Griechen schneller arbeiten können. 700 EU-Beamte sind in Griechenla­nd – doch das sei nur ein Teil der versproche­nen Hilfe, klagt die Regierung in Athen. Von den 160 000 Menschen, die aus den Camps in Griechenla­nd in die EU verteilt werden sollen, sind nicht einmal 5000 umgezogen.

Manche fragen die Beamten im Camp fast jeden Tag: „Wann bekomme ich meine Asylanhöru­ng?“Die Antwort sei fast immer dieselbe: „Warten Sie!“Und viele, wie der Pakistaner Suhail, wollen gar kein Asyl in Griechenla­nd. Er fragt gar nicht erst nach einem Termin. Er will keinen griechisch­en Stempel in seinem Pass, sondern ans Festland und weiter nach Portugal. Die EU hat eine vage Vorstellun­g, wie sie die Menschen auf dem Kontinent verteilen will. Doch die haben oft ihre eigenen Ideen von einem Leben in Europa.

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Foto: dpa Anfang der Woche zündeten protestier­ende Flüchtling­e Zelte im Lager Moria auf Lesbos an.

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