Thüringische Landeszeitung (Gera)
Europas Wartesaal: Im Lager der Verzweifelten
Das Versagen in der Flüchtlingskrise zeigt sich in „Hotspots“wie auf Lesbos
LESBOS. Abraham steigt durch das Loch im Maschendrahtzaun in die Freiheit, die an diesem Morgen nicht mehr ist als eine Steckdose an einem Plastiktisch und ein Becher Tee. Mit dem Strom lädt er sein Handy auf, mit dem Tee den Akku im Körper. Die letzten Tage hat er kaum geschlafen.
Abraham nennt das Lager hinter dem Zaun nur „Gefängnis“. 4000 Menschen harren dort aus in Zelten und Containern. Die EU nennt das Lager „Hotspot“, weil hinter dem Zaun auch Container stehen, in dem sich Menschen wie Abraham registrieren lassen sollen, nachdem sie ihr Leben auf dem Meer in Schlauchbooten riskiert und nach der Fahrt von der Türkei aus europäischen Boden betreten haben. Wenn es gut für sie läuft, bekommen sie Asyl. Für Abraham läuft es schlecht.
Er kommt aus Eritrea, seit fünf Monaten wartet er auf der griechischen Insel Lesbos. Er hatte noch keine Anhörung, kein Verfahren, kein Asyl, keine Abschiebung. Abraham sagt: „Sie behandeln uns wie Tiere.“
Anfang dieser Woche schossen Flammen in den Nachthimmel, Zelte brannten im Lager. Menschen flohen auf die umliegenden Hügel, einige brachte die Polizei in andere Lager.
Abraham sagt, es habe eine Demonstration im Lager gegeben. Es gab Gerüchte über Abschiebungen in die Türkei, so erzählen es auch andere. „Das ging gut, bis ein paar Leute den friedlichen Protest gebrochen haben“, berichtet ein Afghane. Erst flogen Steine, dann brannten Mülltonnen. Später Dutzende Zelte. Erst machten Polizisten wenig, dann schossen sie Tränengas. Nicht zum ersten Mal bricht Feuer in dem Lager aus. Nicht zum ersten Mal gehen Männer aufeinander los. Und niemanden hier überrascht das.
„Es fehlt an Sicherheit in diesem wie in vielen anderen Lagern. Wir haben immer gefordert, die Sicherheit zu erhöhen. Und es fehlt an klaren Angaben für die Flüchtlinge, wann sie wie Asyl beantragen können und wie lange die Fristen sind“, sagt Roland Schönbauer vom UNFlüchtlingshilfswerk.
Suhail, ein Mann aus Pakistan, Ende 40 und Arzt, erzählt. „Jeden Tag gibt es Makkaroni oder Reis.“Viele schlafen auf dünnen Decken, vor dem Registrierungszentrum diskutieren Flüchtlinge mit Beamten, sie trennt ein meterhoher Zaun. Suhail lebe schon sechs Monate im Zelt auf Lesbos, sagt er.
Seitdem die Balkanroute geschlossen ist und der Pakt mit der Türkei gilt, kommen deutlich weniger Menschen per Schlauchboot nach Griechenland. Doch die Insel ist voll, denn die Griechen schicken die Flüchtlinge nicht mehr einfach weiter auf das Festland. Registrierung, Fingerabdrücke, Anhörung, Asylverfahren – das alles soll sich jetzt hier entscheiden. Seit März sind laut griechischem Innenministerium 46 Syrer freiwillig zurückgegangen in die Türkei. Fast alle legen gegen Abschiebung vor Gericht Widerspruch ein.
Die EASO, die Europäische Asyl-Agentur, hilft den griechischen Beamten. Gemeinsam mit dem UNHCR registrierten sie im Sommer 28 000 Flüchtlinge, eine Art Vorsortierung, damit die Griechen schneller arbeiten können. 700 EU-Beamte sind in Griechenland – doch das sei nur ein Teil der versprochenen Hilfe, klagt die Regierung in Athen. Von den 160 000 Menschen, die aus den Camps in Griechenland in die EU verteilt werden sollen, sind nicht einmal 5000 umgezogen.
Manche fragen die Beamten im Camp fast jeden Tag: „Wann bekomme ich meine Asylanhörung?“Die Antwort sei fast immer dieselbe: „Warten Sie!“Und viele, wie der Pakistaner Suhail, wollen gar kein Asyl in Griechenland. Er fragt gar nicht erst nach einem Termin. Er will keinen griechischen Stempel in seinem Pass, sondern ans Festland und weiter nach Portugal. Die EU hat eine vage Vorstellung, wie sie die Menschen auf dem Kontinent verteilen will. Doch die haben oft ihre eigenen Ideen von einem Leben in Europa.