Thüringische Landeszeitung (Gera)
Singsang am OP-Tisch versetzt Kranke in Hypnose
Im HeliosKlinikum Erfurt setzen Ärzte auf die begleitende Therapieform – Körperfunktionen verändern sich in Trance
ERFURT. Ein Säuseln. Das ist das letzte, was der Patient auf dem OP-Tisch wahrnimmt. Die Muskeln sind entspannt, Blutdruck und Atemfrequenz sinken. Die Chirurgen können mit dem Eingriff beginnen. Das Skalpell sucht sich seinen Weg.
Der Anästhesist Christian Icke weicht dem Patienten während der Operation nicht von der Seite. Der 43-jährige Oberarzt im Erfurter Helios-Klinikum hat sich auf medizinische Hypnose spezialisiert. Mit Erfolg. Immer häufiger setzt er die Methode ein.
Hypnose ist, entgegen der herkömmlichen Vorstellung, nicht Schlaf, sondern innere Aktivität. „Der Patient wird durch beruhigenden Singsang in einem anderen Bewusstseinsstand versetzt“, erklärt Icke. Schon vor Jahrtausenden nutzten die Menschen den Effekt. Dank des Phänomens müssen die Mediziner heutzutage bei einer Operation weniger Narkosemittel spritzen.
Zusätzlich verringert die Methode das Stressempfinden – und fördert sogar die Genesung nach dem Eingriff.
Das Chirurgen-Team am Tisch arbeitet fast geräuschlos. Nur Dr. Icke ist zu hören. Er flüstert dem Patienten Worte ins Ohr, manchmal summt er eine Melodie. Permanent überwacht ein Monitor die Werte.
Schmerzen spürt der Patient nicht. Herz- und Atemfrequenz liegen weiter im Normbereich. Das Gesäusel hat ihn an einen sicheren Ort gebracht – in seiner Phantasie: Manchmal ist es eine einsame Berghütte, manchmal ein Schiff auf dem Meer. In Trance schmecken die Patient das Salz in der Luft, andere spüren Regen auf der Haut. „Das Thema muss aus dem Patienten selber kommen – er nimmt mich mit auf seine Reise“, sagt der Mediziner. Im Grunde kann man das Verfahren bei allen Patienten anwenden. „Es gibt aber Unterschiede, manche Menschen leisten mehr, andere weniger Widerstand“, erklärt Icke weiter. „Wissen, Motivation und Vertrauen sowohl beim Therapeuten als auch beim Patienten – mehr braucht es aber nicht.“
Seit 2006 ist die Hypnotherapie wissenschaftlich anerkannt. Doch noch immer hängt ihr etwas Mysteriöses an. Vielleicht erinnert sich so mancher an die Novelle von Thomas Mann, in der Zauberer Cipolla den Kellner Mario unter Hypnose setzt und ihn vor den Gästen des Urlaubsorts bloßstellt. Das tragische Ende ist bekannt.
Dabei weiß man mittlerweile recht genau, was sich im menschlichen Körper abspielt. Wird beispielsweise während der Hypnose die Gehirnleistung gemessen, sieht man: Die Aktivität ist jeweils in einem bestimmten Areal des Gehirns extrem hoch, in anderen Bereichen extrem heruntergefahren.
Hypnose ist eben kein Hokuspokus. „Es geht auch nicht darum, komplett auf das Narkosemittel zu verzichten“, erklärt Icke. Ziel sei es, die Kommunikation zwischen Mediziner und Patient zu verbessern. Und auf diese Weise Schmerz und Aufregung zu minimieren. „Es entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis, die Patienten haben durch die Hypnose das Gefühl, aktiver an der Behandlung beteiligt zu werden“, so Icke.
Tausende Hypnotherapeuten sind mittlerweile in Deutschland organisiert. Vor allen Dingen Zahnärzte nutzen die neue Technik, aber auch Psychotherapeuten und Unfallmediziner. Die berufsbegleitende Ausbildung bis zum Zertifikat dauert mehrere Wochen. Christian Icke beispielsweise hat seine Prüfung in Paris gemacht. „Dort ist man von Anfang an sehr viel offener mit dem Thema umgegangen“, erinnert er sich. Im Jahr 2012 setzte der Erfurter dann seine Fähigkeit zum ersten Mal ein – nicht alle Kollegen waren damals begeistert von der Methode. „Heute hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass alle profitieren“, so Icke. „Von allen Narkosemethoden ist die Hypnose wahrscheinlich die verträglichste und ungefährlichste.“
Angst, dem Mediziner willenlos ausgeliefert zu sein, braucht definitiv keiner zu haben. „Die Behandlung funktioniert nur, wenn der Patient mitmacht – er lässt nur das zu, was er auch wirklich will.“Die Teilnehmer bleiben zu jeder Zeit handlungsfähig, können selbst entscheiden, wann sie die klinische Hypnose beenden möchten.
Die Chirurgen haben inzwischen ihre Arbeit beendet. Am Ende wird nur eine kleine Narbe an den Eingriff erinnern. Die Werte auf dem Überwachungsmonitor bewegen sich immer noch Normalbereich. Christian Icke wird den Patienten jetzt sanft aufwecken. Der Mythos, dass man in der Hypnose stecken bleiben kann, ist genau das: ein Mythos.
Kein Verzicht auf das Narkosemittel Teilnehmer bleiben immer handlungsfähig