Thüringische Landeszeitung (Gera)
„Endzeitstimmung in den Kommunen“
Gemeinden und Städte fühlen sich beim Finanzausgleich vom Land über den Tisch gezogen – Die Gebietsreform überlagert aber selbst diesen Streit – Verunsicherung ist groß
ERFURT. Die Mitgliederversammlungen des Gemeindeund Städtebundes sind traditionell keine vergnügungssteuerpflichtigen Veranstaltungen für Thüringer Kabinettsmitglieder. Hunderte Bürgermeister haben eine Meinung davon, wie die angemessene finanzielle Ausstattung ihrer Kommunen auszusehen hat. Sie weicht in der Regel aber diametral von der der Landesregierung ab. Allein diese Gemengelage verspricht eine ausgesprochene Debattenkultur mit erhöhtem Konfliktpotenzial.
Im vergangenen Jahr wurde die Palette strittiger Themen durch die ins Land strömenden Flüchtlinge und die geplante Gebietsreform noch ergänzt. Zur ohnehin angeheizten Stimmung kam hinzu, dass Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) überraschenderweise zur Gebietsreform nichts sagen wollte und den Schwarzen Peter an seinen Innenminister delegierte. Holger Poppenhäger (SPD) indes fühlte sich sicht- und hörbar überrumpelt. So stand 2015 ein für die Kommunen verantwortlicher Ressortchef am Rednerpult, der über die alles überragende Großreform der rot-rotgrünen Landesregierung zum Verdruss der Anwesenden keine Auskunft geben konnte.
Wenn heute also in der Erfurter Messehalle erneut die Oberhäupter von Gemeinden und Städten auf Ramelow und Poppenhäger treffen, ist der Verlauf der Frontlinie klar.
Selbst wenn die Flüchtlingswelle inzwischen abgeebbt ist, stehen die Kommunen weiter vor den Herausforderungen, die Unterbringung und weitergehende Integration – ob in den Schulen oder auf dem Arbeitsmarkt – mit sich bringen.
Auch zur Gebiets-, Funktionalund Verwaltungsreform wollen die Kommunalen verständlicherweise endlich Konkretes erfahren. Aber der Innenminister will sich weiterhin nicht in die Karten schauen lassen. Am 7. Oktober führt er, wie er selbst gesagt hat, sein letztes Gespräch mit Bürgermeistern, voraussichtlich am 11. Oktober wird er das Kabinett informieren. Bis dahin werde er über die Anzahl der verbleibenden Gemeinden und kreisfreien Städte nichts verraten, betont Poppenhäger gebetsmühlenartig. Das Gleiche gelte für die Zahl der Landkreise und den künftigen Verlauf der Kreisgrenzen. Es ist kaum zu erwarten, dass der Minister von seiner Linie abrücken wird, aber bei den Bürgermeistern steigt die Verunsicherung.
„Alle sagen, es herrscht eine gewisse Endzeitstimmung. Oder es ist eine Art Lähmung eingetreten“, berichtet der Geschäftsführer des Gemeinde- und Städtebundes, Ralf Rusch, von der kommunalen Basis. Projekte würden nicht mehr vorangetrieben; und die Begründung sei stets die gleiche: „Wir wissen ja nicht, wie lange es uns noch gibt.“
Rusch erläutert die sich dem Nullpunkt nähernde Laune der Bürgermeister anhand eines Beispiels: Derzeit habe Thüringen etwa 2,15 Millionen Einwohner. 1,114 Millionen Menschen lebten in rund 30 Städten mit mehr als 10000 Einwohnern. Das seien jene, die von der Reform kaum betroffen sein dürften, weil das Vorschaltgesetz des Landes eine Mindesteinwohnerzahl von 6000 vorschreibt. Damit bleibe eine gute Million, die in Gemeinden mit weniger als 10 000 Einwohnern zu Hause sind. Würde man diese Menschen auf Kommunen aufteilen und die künftige Mindestgröße von 6000 Einwohnern zugrunde legen, erhielte man etwas mehr als 170 Gemeinden. Zusammen mit den 30 größeren Städten hätte das Land in Zukunft demnach lediglich gut 200 kommunale Einheiten – aktuell seien es noch 849. Beinahe 650 Gemeinden müssten aufgelöst werden. „Jetzt kann man wohl ungefähr nachvollziehen, warum bei den Bürgermeistern momentan eine solche Stimmung herrscht“, sagt Rusch.
Von dem Megathema abgesehen, bleibt das Hauptaugenmerk der Mitgliederversammlung auf der Forderung nach einem kräftigen Nachschlag beim Kommunalen Finanzausgleich (KFA). Da sowohl Gemeindebund als auch Landkreistag beim KFA verfassungsrechtliche Bedenken sehen, haben sie – für Thüringen ein Novum – erstmals gemeinsam ein Gutachten in Auftrag gegeben. Das ist insofern bemerkenswert, weil Gemeinden und Städte auf der einen, die Kreise auf der anderen Seite im Detail unterschiedliche Auffassungen haben, wenn es um die Verteilung des lieben Geldes geht.
Verfasser der Expertise ist Johannes Hellermann vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanzund Steuerrecht der Universität Bielefeld. Er präsentiert im internen Teil der Mitgliederversammlung erste Kernpunkte seines Gutachtens, das im Dezember endgültig fertiggestellt sein soll. Die TLZ erfuhr bereits jetzt aus Verbandskreisen, dass der Wissenschaftler den Finanzausgleich in Teilen nicht mit der Verfassung in Einklang sieht. Ein Grund ist wohl, dass vom Land zu wenig Geld für die Vielzahl der zu erfüllenden Aufgaben zur Verfügung gestellt wird.
Im Vergleich zu 2015 ist die kommunale Finanzausstattung durch die Regierung von 1,99 Milliarden auf 1,90 Milliarden Euro gesunken. Angesichts kommunaler Mindereinnahmen von 85 Millionen Euro und zusätzlicher Aufgaben wie Verwaltungskosten in der Flüchtlingsbetreuung (23,6 Millionen Euro), Sonderlastenausgleich für Kurorte (10 Millionen Euro) und Beseitigung besonderer Umweltbelastungen (3,5 Millionen Euro) erhalten die Kommunen im laufenden Jahr 122 Millionen Euro weniger als 2015. Für den vom Land neu gesetzten Standard beim Digitalfunk kommen 2017 weitere 1,2 Millionen Euro hinzu.
Der Präsident des Gemeindeund Städtebundes, Michael Brychcy (CDU), erinnert RotRot-Grün gerne an das selbst ausgegebene Ziel, nicht alles anders, aber vieles besser machen zu wollen. Mit Blick auf die Latte ungelöster Probleme fällt Brychcy dabei ein Satz ein, der Bertold Brecht zugeschrieben wird: „Wer A sagt, muss nicht B sagen, wenn er erkennt, dass A falsch war.“
Ob Innenminister Poppenhäger sich dieses Zitat bei seiner Gebietsreform zu eigen macht, ist nicht bekannt. Fest dürfte jedoch stehen, dass er am heutigen Tag bestens vorbereitet vor die Bürgermeister treten wird.