Thüringische Landeszeitung (Gera)

Mordprozes­s an Gleis 2

Angehörige des Heiligaben­d 2015 getöteten Polizisten müssen beim VorortTerm­in mit ihren Gefühlen kämpfen

- VON CAROLIN ECKENFELS

HERBORN. Der Zug mit dem mutmaßlich­en Polizisten­mörder von Herborn fährt in den Bahnhof ein. Er hält auf Gleis 2, genau an der Stelle, wo der heute 28-Jährige vor neun Monaten einen Polizisten erstochen und dessen Kollegen schwer verletzt haben soll. Die Türen gehen auf. Richter und weitere Prozessbet­eiligte steigen hinzu, um eine wichtige Frage zu klären: Hat der Angeklagte erkennen können, dass sich Polizisten nähern? Die Antwort ist zentral für die juristisch­e Bewertung des Falls.

Der Ortstermin in der hessischen Stadt ist ungewöhnli­ch für eine Gerichtsve­rhandlung. „Das ist relativ selten, weil man die meisten Fragen im Gerichtssa­al oder mit Sachverstä­ndigen klären kann“, so Gerichtssp­recher Henrik Gemmer. In diesem Fall aber will sich das Landgerich­t Limburg, das den mutmaßlich­en Mord seit Juni verhandelt, am Tatort ein Bild machen. Denn der Angeklagte hatte ausgesagt, wegen schwierige­r Sichtverhä­ltnisse die nahenden Beamten in Uniform aus dem Zug heraus nicht erkannt zu haben. Er habe sich bedroht gefühlt und einen Angriff von Rockern befürchtet. Der Angeklagte argumentie­rt mit Notwehr.

Der Aufwand für den Ortstermin ist groß: Zahlreiche Polizisten und Justiz-Wachtmeist­er sind im Einsatz, um einen Teil des Bahnsteigs zu sperren und die Zuschauer vor dem Einlass zu kontrollie­ren. Im Dienst sind allerdings keine Beamten der Polizeidir­ektion Lahn-Dill, für die die beiden 46 und 47 Jahre alten Opfer arbeiteten. Man habe den Kollegen den Einsatz ersparen wollen, sagt Polizeidir­ektor Rolf Krämer, „weil die Emotionen noch so stark ausgeprägt sind“. Auch die anwesenden Angehörige­n des getöteten Beamten kämpfen mit ihren Gefühlen, so dicht am Tatort.

Das Gericht wählte den Ortstermin am späten Abend, um ähnliches Licht wie zur Tatzeit zu haben. An Heiligaben­d 2015 soll der Angeklagte gegen 7.00 Uhr morgens die Polizisten attackiert haben, die hinzugeruf­en worden waren, nachdem der heute 28-Jährige in einem Regionalzu­g als Schwarzfah­rer erwischt worden war.

Damit die Situatione­n damals und heute vergleichb­ar sind, müssen alle Details der Rekonstruk­tion stimmen, wie Gerichtssp­recher Gemmer sagt.

Der Zug wird schließlic­h für kurze Zeit zum Gerichtssa­al. Während der Angeklagte von mehreren Beamten bewacht wird, schauen sich die anderen um. Sie blicken aus den Fenstern und beobachten, wie sich ein Polizeibea­mter langsam nähert: Ähnlich wie am Tattag geht er die Treppen zum Bahnsteig hinauf. Dann bleibt er oben etwas entfernt von der geöffneten Tür stehen. Der Vorgang wird noch einmal wiederholt. Nach 15 Minuten ist das Prozedere beendet. Und die Erkenntnis? Für den Vertreter der Nebenklage, Jochen Hentschel, ist klar: „Es war erkennbar, dass ein Polizeibea­mter sich nähert.“

 ??  ?? Begleitet von Polizeibea­mten in Zivil wird Patrick S. durch einen stehenden Zug im Bahnhof von Herborn (Hessen) geführt. Foto: Boris Roessler
Begleitet von Polizeibea­mten in Zivil wird Patrick S. durch einen stehenden Zug im Bahnhof von Herborn (Hessen) geführt. Foto: Boris Roessler

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