Thüringische Landeszeitung (Gera)
Protest und Provokation für AfD essenziell
Thüringer Fraktion schneidet im Vergleich mit Parteikollegen bei Parlamentsarbeit eher mau ab
ERFURT/KASSEL. Die AfD-Fraktion in Thüringen schneidet nicht gut ab im Vergleich aller AfD-Landtagsfraktionen in Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommen die Wissenschaftler Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels, Christian Neusser und Alexander Berzel in der Studie „Parlamentarische Praxis der AfD in deutschen Landesparlamenten“, die sie beim Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung vorgelegt haben.
Grund für die eher maue Parlamentsarbeit unter Fraktionsund Parteichef Björn Höcke: Seine Gruppe gehöre zu „bewegungsorientierten Fraktionen“, ebenso wie Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, SachsenAnhalt und Baden-Württemberg. Protest und Provokation seien essenziell. Höcke setze auf „eine klare ideologisch, strategische Vorgabe“, sagt Professor Schroeder von der Uni Kassel im TLZ-Gespräch. Das Parlament bringe der „bewegungsorientierten“Gruppe Geld und Anerkennung und werde vor allem als Bühne wahrgenommen.
Schroeder sieht die in sich zerstrittene AfD auf Bundesebene bei der Wahl im September deutlich unter zehn Prozent.
ERFURT/KASSEL. Es spricht vieles dafür, dass die AfD tatsächlich von Herbst an für Deutschland Politik macht – Oppositionspolitik im Bundestag. Schon jetzt gehört sie 13 von 16 Länderparlamenten an; und im September will sie in den Bundestag einziehen. Jetzt haben die Wissenschaftler Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels, Christian Neusser und Alexander Berzel in einer WZB-Studie die „Parlamentarische Praxis der AfD in deutschen Landesparlamenten“untersucht. WZB steht für Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Professor Schroeder lehrt an der Uni Kassel Politisches System der Bundesrepublik und Staatlichkeit im Wandel. Zu diesem Wandel trägt die AfD bei – und Schroeder ordnet im TLZGespräch die Rolle der AfD Thüringen mit Björn Höcke ein. Die hiesige AfD-Fraktion ist die kleinste, wenn die Landtage der Flächenstaaten verglichen werden. Sie schrumpfte gleich in ihrem ersten Jahr von 11 auf 8, weil Höckes Politik für einen Teil der neuen Landtagsmitglieder nicht mehr tragbar war. Was im Inneren für Zoff sorgte, zeigt sich auch nach außen: „Es ist die polarisierendste Landtagsfraktion der AfD“, stellt Schroeder fest. Vermessen haben er und seine Kollegen dies etwa mit Blick auf die Ordnungsrufe. „Es gibt kein Parlament, in dem die Zahl der Ordnungsrufe in dieser Legislatur so hoch ist wie in Thüringen“, sagt Schroeder. Die Hälfte der Ordnungsrufe gehe direkt zulasten der AfD – und die andere Hälfte beruhe wohl häufig auf emotionalen Reaktionen auf die AfD.
Provokation ist das eine. Qualität der Parlamentsarbeit ist das andere. Und hier kommen Schroeder und seine Kollegen zu dem Ergebnis, dass die AfD im Thüringer Landtag bei der Politikgestaltung „am schwächsten von allen AfDFraktionen abschneidet“. Denn verglichen werden in der Studie nicht alle Fraktionen aller Parteien, sondern die ganz unterschiedlich ausgeprägten AfDFraktionen in den Ländern. „Die Thüringer AfD-Fraktion ist am wenigsten ambitioniert, am wenigsten fleißig und am wenigsten kompetent“im Vergleich mit allen anderen AfDFraktionen.
Diese Einschätzung fuße „auf der Auswertung der Zahl großer Anfragen, Debattenbeiträge und der inhaltlichen Einlassungen“. Zu den Debattenbeiträgen bemerkt Schroeder: Häufig würden diese nur angemeldet, „aber gar nicht gehalten“.
Dass es in den Landesparlamenten ganz unterschiedlich fleißige AfD-Fraktionen gibt, hat nach Ansicht der Professoren mit den „zwei unterschiedlichen Typen von AfD-Fraktionen“zu tun, die sie identifiziert haben bei ihrer Untersuchung. Da gibt es den parlamentsbezogenen Typus, der versuche, durch Kompetenz und Beteiligung Anerkennung zu erlangen. Die AfD in Sachsen und in RheinlandPfalz zähle dazu, aber auch die Fraktion in Berlin, sowie zum Teil AfD-Abgeordnete in Hamburg. Höckes Gruppe dagegen gehöre zu „bewegungsorientierten Fraktionen“, ebenso wie Brandenburg, MecklenburgVorpommern, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg. Sie setzen auf Protest und Provokation. Nun liegt es nah, „bewegungsorientiert“rückwärts gerichtet zu verstehen. Als einen Hinweis, wie die NSDAP das Parlament benutzte, will Schroeder diese Einschätzung aber nicht eingeordnet wissen. „Deshalb haben wir das Wort auch in Anführungszeichen gesetzt. Wir wollen damit lediglich zum Ausdruck bringen, ob die Arbeit im Parlament als eine seriöse, notwendige und sinnvolle erachtet wird und ob das Zentrum der Arbeit der Abgeordneten das Parlament ist? Oder ist das Parlament nur die Bühne, um in die Gesellschaft und in die eigene Anhängerschaft zu kommunizieren?“Dabei sei aber auch klar, dass diese Gegenüberstellung auch etwas Idealtypisches besitze, was man daran sehen könne, dass in allen Fraktionen auch das jeweilige Gegenstück vorhanden sei. Auch die Nutzung von Social Media sei in beiden Richtungen umfänglich anzutreffen, was mit ihrer geringen Nähe zu etablierten Medien und einer nicht vorhandenen Verankerung in großen gesellschaftlichen Organisationen wie Sportvereinen, Kirchen oder Gewerkschaften zusammenhänge.
Maßgeblich sei für die Ausrichtung der jeweilige Fraktionschef. Durch Björn Höcke sei „eine klare ideologisch, strategische Vorgabe gegeben“, ist er sich sicher und verweist auf jene Abgeordneten, die deswegen der AfD den Rücken kehrten. Das Parlament bringe der „bewegungsorientierten“Gruppe Geld und Anerkennung. Typisch sei die mediale Nutzung etwa durch eigene Teams, die dann zum Beispiel mit kleinen Filmen „den Eindruck erwecken, sie seien die einzige echte Opposition im Landtag, die sich für die Interessen des Volks interessiert“, sagt Schroeder. Beim Blick auf die Kommunikation zeige sich etwa bei Björn Höcke, dass er ein „Social-Media-Star für die neue Rechte“sei. Höcke gehe es um eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft, das Parlament sei auf diesem Weg nur ein kleiner Baustein. Dass Höcke mit Blick auf die künftige Bundestagsfraktion der AfD keine Rolle spielt, betrachtet Schroeder aus AfD-Sicht als folgerichtig. „Wenn er in der ersten Reihe gestanden hätte, hätte das eine enorme Mobilisierung gegen die AfD hervorgerufen. Und das wollte man nun doch nicht“, sagt er. Statt Höcke soll Stephan Brandner in den Bundestag. „Er ist in der Tat vom Kaliber der Provokation“, so Schroeders Einschätzung. Allerdings sei Brandner „bundesweit völlig unbekannt“.
Schroeder verweist darauf, dass durch den Wandel der CDU hin zur Partei der Mitte eine Lücke entstanden sei, die der parlamentsorientierte Teil der AfD besetzen wolle. Dieser Gruppe gehe es nicht um die „identitäre Bewegung oder um grundstürzende Veränderungen. Für diese Gruppe ist die alte CDU der 1980er Jahre das Maß der Dinge“, sagt er.
Schroeder rechnet damit, dass die AfD „knapp in den Bundestag kommt, wenn alles so bleibt, wie es jetzt ist.“Er macht das an jenem Teil der Gesellschaft fest, der strukturell generell unzufrieden sei mit der Gesamtlage oder auch mit Angela Merkel.
Allerdings gelte sie inzwischen eher wieder als verlässliche Konstante in einer Welt, die durch die Veränderungen vor allem auch im Verhältnis zu den USA unsicherer geworden ist. Vor diesem Hintergrund sieht Schroeder die in sich zerstrittene AfD auf Bundesebene deutlich unter zehn Prozent.
„Es gibt kein Parlament, in dem die Zahl der Ordnungsrufe in dieser Legislatur so hoch ist wie in Thüringen.“Professor Wolfgang Schroeder bewertet die Gruppe um Björn Höcke (Foto) als die polarisierendste AfDFraktion im Vergleich aller Länderparlamente.