Thüringische Landeszeitung (Gera)
Die Wahrheitssucherin
Jugendschöffin Anke Siegel aus Ebeleben spricht seit vier Jahren Recht im Namen des Volkes
NORDHAUSEN/ERFURT. Nein, das ist nicht normal. Jugendschöffin Anke Siegel staunt über den jungen Mann, der auf dem Papier zwar volljährig ist, aber weit entfernt davon zu sein scheint, erwachsen zu werden. Immer wieder zündelt er. Der Brandstifter scheut auch vor Gebäuden von Freunden nicht zurück. Wenn es brennt, ruft er die Feuerwehr. – Endlich wird er erwischt. Siegel ist dabei, als gegen ihn verhandelt wird. Sie hat gemeinsam mit einem zweiten Schöffen und der Berufsrichterin im Amtsgericht Nordhausen darüber zu entscheiden, ob der Brandstifter ins Gefängnis geht oder nicht.
Anke Siegel spricht seit vier Jahren Recht. Obwohl sie nicht Jura studiert hat. Sie ist Laienrichterin. Schöffin also. „Weil ich das spannend finde“, sagt sie. Würde die Sozialwirtin noch einmal über ihr Studienfach zu entscheiden haben, wäre es wohl Jura. Da ist sie noch keine 25 Jahre alt, als sie sich erstmals als Schöffin bewirbt. Und damit zu jung für dieses Ehrenamt. Inzwischen ist sie 39 und richtig gern Jugendschöffin. Nicht, weil sie auf Sensationen aus ist. Sie will die Wahrheit herausfinden. „Obwohl das manchmal richtig schwer ist“, sagt sie. Sind die Laien nur ein Feigenblatt im Namen der Demokratie? Anke Siegel schüttelt den Kopf über so eine Frage. Natürlich kenne sie nicht alle Paragrafen. Aber Schöffen kennen das Leben. Nehmen ihren gesunden Menschenverstand sowie das Wissen der Berufsrichter – und richten sich auf lange Verhandlungen ein. An Gerichtstagen trägt Anke Siegel – sonst lieber leger angezogen – Bluse und Hose. Die gediegene Kleidung hat mit Achtung gegenüber dem Gericht zu tun.
„Ich versuche, dass die Täter möglichst nicht weggesperrt werden“, sagt die Mutter einer zwölfjährigen Tochter. Diese Sicht hat wohl mit ihrer Arbeit in der Geschäftsführung der Stiftung „Hand in Hand“zu tun. Dort geht es um Hilfe für Familien und für Schwangere. Sie kümmern sich um Menschen, die mit schlechten Bedingungen beim Start ins selbstständige Leben zu kämpfen haben. Ziel sollte auch sein, mit dafür zu sorgen, dass die nächste Generation nicht erneut entgleitet. Prävention ist für Anke Siegel der goldene Weg gegen steigende Kriminalität. Darauf gibt sie Brief und Siegel.
Ein Gefängnis ist für Anke Siegel kein geeigneter Ort, über verändertes Leben nachzudenken. „Wenngleich es manchmal nicht anders geht“, betont die Frau, die durchaus energisch auftreten kann. Sie ist eine Person, die weiß offensichtlich viel. Nicht alles muss man gleich zeigen. Auch nicht während einer Gerichtsverhandlung, wenn Siegel – vom Richtertisch aus gesehen – links den Angeklagten mit Anwalt und rechts den Staatsanwalt mit Jugendgerichtshilfe sitzen hat. Sie hört sich genau an, was erzählt wird im Gerichtssaal. Und sie macht sich Notizen. Wenn ihr etwas nicht klar oder schlüssig erscheint, fragt sie mal leise, mal laut die Berufsrichterin. Wenn sich die drei Richter zurückziehen, um zu einem Urteil zu kommen, gibt es weitere Fragen. Es soll gerecht zugehen. Siegel ist eher für Arbeitsstunden als Knast oder hohe Geldstrafen. Das habe nichts mit Milde zu tun, sagt sie. „Jugendliche, die vor Gericht kommen, sind der Beweis für missglückte Prävention.“
Diese Meinung ist nicht sonderlich populär. Wegsperren und basta. Eine Tracht Prügel müssten die kriegen. Wenn das meine wären ... Es gibt hinreichend Vorurteile, was mit Jungs – tatsächlich hat sie bisher nur Jungs vor dem Richterstuhl erlebt – passieren soll, die nicht geradeaus laufen. „Diese Sicht ist unsinnig. So beginnt das Dreieck von Tat, Strafe, Entlassung und erneuter Tat“, ist Anke Siegel überzeugt. Ihre Weltsicht hat nichts mit Weichheit zu tun. Sexuelle oder andere Gewalt gehören knallhart bestraft. Damit es nicht schlimmer wird. Doch selbst in diesen Fällen kann eine Bewährungsstrafe manchmal besser sein. „Im Gefängnis lernen sie doch nicht, ihr Leben in den Griff zu bekommen.“
Manchmal sitzt sie da und würde gern auf den Tisch hauen und dem Angeklagten vor ihr sagen, „Reiß dich endlich zusammen““, wenn da einer im Stuhl lümmelt, maulfaul ist und sich hinter Rotzigkeit versteckt. Sie sieht die Angst dahinter. Und sie sieht auch, wenn einer sich amüsiert über die, die auf ihn einreden. Das sind die Geübten. Lässig gekleidet. Zu lässig.
Die Rolle der Beisitzer im Verfahren ist klar geregelt
Kein Pardon bei Gewalt gegen ein Kleinkind
Nein, ihre Weltsicht hat sie nicht verändert, seit sie Schöffin ist. Sie glaubt immer noch an das Gute und lässt sich nicht entmutigen. Aber es gibt Fälle, die nimmt sie mit nach Hause und in die Nacht und in ihr Leben. Sexuelle und körperliche Gewalt gegenüber einem Baby. Sie schüttelt sich. Abschaum. Und kein Pardon. Da taugt die schwierige Kindheit nicht mehr.
Anke Siegel findet den Spruch „Im Zweifel für den Angeklagten“gut. Er ist die Basis dieses Rechtssystems. Manchmal ist nahezu sicher, dass der vor ihr die Tat begangen hat, die ihm zur Last gelegt wird. Er fragt den Anwalt. Der schüttelt den Kopf. Schweigt. Dem geht es nicht um Recht. Der will seinen Mandanten raushauen. In solchen Momenten gefällt ihr weder dieses „In dubio pro reo“noch ein Freispruch „aus Mangel an Beweisen“. Aber es muss sein. Damit möglichst niemand in den Knast einzieht, der unschuldig ist.
„Ich will verstehen, warum einer etwas getan hat“, sagt sie. Vielleicht hatte er Gründe, die man nicht sehen kann und vielleicht zwar nicht verstehen aber wissen muss. Die Richterin, mit der sie zusammenarbeitet, erklärt vor jeder Verhandlung, welche Paragrafen für die Tat in Frage kommen und was mögliche Strafen sein könnten. Damit die beiden Laienrichterinnen auf Augenhöhe sind. Die Berufsrichterin weiß um die Gesetze. Und doch ist es gut, dass die Laienrichter mit im Gerichtssaal sitzen. Weil die beiden einen Seitenblick haben, der aus ihren Berufen und ihrem Alltag her rührt. Der Seitenblick ist inzwischen geübt und geprägt von der eigenen Erfahrungswelt. Manchmal ändern die beiden das vorgeschlagene Strafmaß. Aber zum Schluss sind sie sich immer einig. „Im Namen des Volkes ...“bekommt in diesem Kontext einen besseren Klang.
Gerade hat sich Anke Siegel erneut um das Schöffenamt beworben. Die fünfjährige Wahlperiode geht im Dezember zu Ende. Aber sie möchte auch im kommenden Jahr, wenn die neuen Schöffen und Schöffinnen in Thüringen gewählt sind, wieder Recht sprechen. Obwohl dieses Ehrenamt Zeit und manchmal auch Nerven kostet.
Sie haben übrigens den jungen Brandstifter nicht ins Gefängnis gesteckt.