Thüringische Landeszeitung (Gera)
Die Wissenschaft und die Wahrscheinlichkeit
Anmerkungen zu Bruno Lüdke, der zum Vielfachmörder stilisiert wurde und unter den Nazis wohl gewaltsam den Tod fand
Peter Stricker schreibt zur Faktenlage im Fall des sogenannten „blöden Bruno“: Bei Robert Siodmaks „Nachts, wenn der Teufel kam“las ich im Beitext: „Am 8. April verstarb Bruno Lüdke unter ungeklärten Umständen. In der Sterbeurkunde des Standesamtes Wien-Alsergrund wird als Todesursache ‚kleinschwielige Herzfleischentartung, Erweiterung der rechten Herzkammer, Herzlähmung‘ genannt.“Ingrid Arias nimmt in ihrem 2009 entstandenen Projektbericht „Die Wiener Gerichtsmedizin im Dienst nationalsozialistischer Biopolitik“(von mir korrekt zitiert! — Sie merkten gewiss sofort meine sprachliche Distanzierung — als Lektor hätte ich ihr diese Wortwahl um die Ohren gehauen) an: „Am wahrscheinlichsten scheint es, dass Lüdke in einer Unterdruckkammer während eines medizinischen Versuchs unter Beteiligung einiger Ärzte der Gerichtsmedizin getötet wurde.““(Zweitausendeins Edition 2/1957) Meine Anmerkungen dazu: 1. Historiker sollten nicht über „Wahrscheinlichkeiten“spekulieren. Die einzigen gesicherten Fakten sind die Sterbeurkunde, berechtigte Zweifel an dieser und kein eindeutiges Korrekturergebnis. Dabei sollte man es als Wissenschaftler belassen; weitergehende Thesen sollten Journalisten oder Hobbyhistoriker dem Publikum vorstellen.
2. Die Verwendung des Wortes „Wahrscheinlichkeit“sollte tunlichst unterlassen werden. Es ist ein mathematischer Fachterminus. Eines Gebietes der Mathematik, das in zivilisierten Ländern seit Jahrzehnten Schulstoff ist. Dieser Begriff ist grundsätzlich nur anwendbar, wenn das Kriterium ‚Wiederholbarkeit des Versuchs‘ gewährleistet ist. In diesem Fall ist es ausgeschlossen.
Unsere deutsche Sprache ist meines Erachtens flexibel genug, den gewünschten Gedankengang auszudrücken. Am naheliegendsten wäre: eine erwägenswerte Möglichkeit.
Zur Vermeidung von Missverständnissen: Trotz meiner Anmerkungen habe ich diesen TLZ-Artikel mit deutlichem Interesse gelesen. So gefällt dem Leser eine Tageszeitung. Aber ich kann nur noch sezierend lesen; dies trifft auf alle Texte zu. Einschließlich Dichtung.