Thüringische Landeszeitung (Gera)
Welche Farbe hat die Welt?
Im Sportunterricht der ersten Klasse war ich nicht glücklich. Die vorgeschriebene Anzugsordnung war strikt einzuhalten: schwarze Turnhose, weißes Trägerhemd. Ich habe
immer andere Schulen beneidet, die Rot tragen durften oder Blau.
Heute würde die von mir ungeliebte Kluft als cool gelten. Schließlich spielen die Deutschen auch so. Mag die Olympiamannschaft längst Rot und gelbes Pastell wiederentdeckt haben, mögen Polen, Argentinier, Senegalesen oder Franzosen als wandelnde Nationalflaggen über das Feld stürmen – beim DFB bleiben sie stoisch wie der Jogi am Spielfeldrand. Der größte Sportfachverband der Welt, der sich gern modern gibt und dessen Vorzeigemannschaft mit ihren elf Außenministern bisweilen mehr diplomatische Kraft besitzt als Kanzlerin und Kabinett zusammen, spielt in hundert Jahre alter schwarzweißer Erinnerung: Preußens Glanz ist Deutschlands Glorie. Wir streiten, warum Özil die
Hymne nicht mitsingt und sehen zugleich eine Mannschaft, die die Farben ihres Landes verleugnet.
Dabei haben sogar die Fans vor zwölf Jahren ihr Erweckungserlebnis gehabt. Das Sommermärchen hat die Gefühle, mit denen wir Deutschen uns seit jeher schwer tun, locker gemacht. SchwarzRotGold flatterte plötzlich mit nie dagewesener Leichtigkeit von Autodächern oder grüßte von bemützten Rückspiegeln und geschminkten Gesichtern.
Auf der Brust ihrer Stars blieb das tricolore Kolorit
die Ausnahme. Kurzzeitig flammte es im Streifenzickzack des NeunzigerWeltmeisterjahres auf. Seither ist die Farbe verblasst wie die Euphorie der Einheit. Vor vier Jahren war von SchwarzRotGold
noch ein rot akzentuierter Brustring übriggeblieben. In diesem Jahr zieren des Kaisers neue Kleider nur kaum erkennbare Graustufen. Ein Trikot wie eine aus dem Drucker gezogene Testseite, die den Füllstand der Tonerpatrone anzeigt.
Dabei, auf seine Weise passt es ja. Das Hemd, das den Deutschen seit jeher näher ist als die Hose, gleicht dem bisherigen Spiel seiner Protagonisten: über weite Strecken farblos. Und es spiegelt die Debatten in diesem Land, in dem die nationalen Töne ihren Klang verändert haben. Die über Fußball, die über Politik und die übers Leben. Es gibt nur noch Schwarz oder Weiß.