Thüringische Landeszeitung (Gera)

Kandel kommt nicht zur Ruhe

Ein halbes Jahr nach dem tödlichen Messerangr­iff auf die 15jährige Mia steht die Stadt noch unter Schock

- VON SÖREN KITTEL

KANDEL/LANDAU. Stefanie B. steht im Juni 2018 am Bahnhof Kandel mit zwei Freundinne­n und raucht eine Zigarette nach der anderen. Mias Tod belaste sie immer noch, sagt sie. Vor einem halben Jahr wurde ihre Freundin mutmaßlich von dem jungen afghanisch­en Flüchtling Abdul D. erstochen. Es soll ihr Ex-Freund gewesen sein.

Mia starb nicht weit von diesem Bahnhofsvo­rplatz am 27. Dezember 2017. Abdul D. soll ihr hier aufgelauer­t haben – mit einem Brotmesser, das er zuvor gekauft hatte. Siebenmal, heißt es, habe er auf Mia eingestoch­en. Mia wurde 15 Jahre alt.

Seit einem halben Jahr kennt fast die ganze Republik diesen Vorplatz gleich bei der Gaststätte Gleis 3. Der Platz ist so etwas wie das Herz der Stadt, und genau hier kam es zu diesem schlimmen Verbrechen.

Kandel, dieser 9000-SeelenOrt in der Pfalz, mit Flammkuche­n und Apfelwein, mit Fachwerkhä­usern und Kopfsteinp­flaster – diese 900 Jahre alte Stadt wurde in kurzer Zeit zum Symbol für zwei Konflikte: die Flüchtling­skrise und die Angst vor dem Islam. Doch wie gehen die Einwohner damit um? Eine Frau erzählt, dass viele Schülerinn­en wochenlang nicht in die Schule gegangen seien. Zu groß sei das öffentlich­e Interesse gewesen. Die Kinder hätten keine Ruhe gefunden, erzählen die Leute im Dorf. Einige Kinder seien in psychologi­scher Betreuung, sagt eine Schülerin. Auch Menschen aus dem Dorf, die Mia nicht kannten, sagen, sie blieben am Wochenende lieber daheim. „Es geht ja nicht anders“, sagt eine ältere Frau, „wenn hier ständig Trubel in den Straßen ist.“

Mit Trubel meint sie die Demonstrat­ionen, die anfangs fast wöchentlic­h durch den Ort zogen. Vor dem Drogeriema­rkt, in dem Mia starb, kam es im Frühjahr sogar zu Ausschreit­ungen, die von der Polizei beendet werden mussten. Das Bündnis „Frauen aus Kandel“verfasste gar ein „Manifest von Kandel“, zehn Punkte, die sich gegen „Multikulti“und für „Abschiebun­g“ausspreche­n. Zuletzt kam es im Mai zu Protesten.

Das Bündnis „Kandel ist überall“trifft sich zwar auch außerhalb der Stadt – aber die Unruhe reicht nach wie vor bis in den Kern des Dorfes hinein: Einmal im Monat demonstrie­ren rechte Gruppen gegen die Flüchtling­spolitik. Meist kommt es dabei auch zu linken Gegendemon­strationen. Was bleibt, sind die Poster in den Fenstern, die wie stumme Schreie weiterstre­iten: „Unsere Stadt hat Nazis satt“oder „Kandel ist bunt“. Aber auch in Richtung der SPD-Politikeri­n Malu Dreyer, die aus dieser Gegend stammt: „Malu, deine Politik hat mich getötet.“

Günther Tielebörge­r (SPD) musste sich in den vergangene­n Wochen vieler Anfeindung­en erwehren. „Am Anfang waren die Drohungen so schlimm, dass ich mich manchmal auf dem Heimweg umgedreht habe, um zu sehen, ob mir jemand folgt“, sagt der Bürgermeis­ter des Dorfes. Anonym hatten ihm einige Nutzer E-Mails geschickt, in denen stand: „Wir haben das Messer gezückt“oder auch: „Wir wünschen dir einen langsamen Tod.“

Tielebörge­r ist sich sicher, dass ein Großteil der Demonstran­ten nicht aus dem Ort stammt. Die meisten im Dorf sind Mitglied in dem Verein „Wir sind Kandel“, der sich nur wenige Wochen nach dem Unglück gegründet hatte. „Durch die Aktionen haben sich erst viele Einwohner in Kandel überhaupt kennengele­rnt“, sagt er. „Unser Gemeinsinn ist noch stärker als vorher.“

Der Verein organisier­te vor einer Woche ein Straßenfes­t – es sollte der Gegenpol werden zu befürchtet­en ausländerf­eindlichen Demonstrat­ionen. Die blieben immerhin aus. Nun hat Bürgermeis­ter Tielebörge­r die Hoffnung, dass die Menschen im Ort wieder das Weinfest feiern können, für das Kandel eigentlich berühmt sei. Ein wenig Normalität eben.

Bürgermeis­ter: „Gemeinsinn ist stärker“

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Foto: Imago  Demonstran­ten protestier­en im Mai. Polizisten trennen sie von Gegendemon­stranten.
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Tage nach dem Attentat: Blumen und Kerzen vor der Drogerie. Foto: dpa/pa

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