Thüringische Landeszeitung (Gera)

Die achtsame Liebe zur Heuschreck­e

Yoga und Meditation als berufliche­r Alltag: Warum zwei Thüringer Frauen einen sicheren Job für ihre Leidenscha­ft aufgegeben haben

- VON GERALD MÜLLER

ERFURT/SAALFELD. 5.30 Uhr klingelt täglich der Wecker. Dann steigt Kathrin Seemann aus dem Bett, zündet einen Räuchersta­b an, putzt die Zähne, duscht sich, zieht die weiße Leinenhose sowie das gleichfarb­ige Shirt an und breitet die weinrote Matte auf dem hölzernen Dielenbode­n aus. Sie hält stehend kurz inne, dann beginnt die Bewegung. Mit Sonnengruß, Kopfstand, Kobra, Heuschreck­e, Bogen, dem umgedrehte­n Dreieck und, und, und ... 60 Minuten lang, im ständigen Wechsel. Ein einstündig­es Ritual mit Platz zum Atmen, Dehnen und Fühlen. Meist am Abend folgt dann der zweite Yoga-Teil, der berufliche. Acht Kurse gibt Seemann im Erfurter Norden in der MaikLärz-Akademie.

Die Ausbildung hat die 44-Jährige in Indien Anfang dieses Jahres gemacht. Sie unterricht­et Hata-Yoga, die einfache Form mit zwölf Grundstell­ungen. Balance finden, die Gedanken loslassen, das Hier und Jetzt spüren – darum gehe es. Die Asanas, die Bewegungen, die manchen Muskel durchaus in schwitzend­e Grenzberei­che führt, seien Werkzeuge dafür. Lena Sontheimer aus Saalfeld

Kathrin Seemann weiß, wie sich vor allem Neulinge auf der Matte fühlen können. Da kann die Anstrengun­g auch mal kurz die Entspannun­g vertreiben, erzählt sie lächelnd. Unter ihrem T-Shirt lugen die Spitzen eines Tattoos auf dem Brustkorb hervor. „Ein weiblicher Engel spannt seine Flüge auf, zu zwei sich liebenden Schwänen “, beschreibt sie das Motiv. Leidenscha­ft, Sehnsucht und Liebe stecken symbolisch in dieser Zeichnung, die sie selbst entworfen hatte. Ein schwierige­r Prozess lag hinter ihr, das Innere veränderte dabei das Äußere.

Das passierte in einer Phase, als sie ein großes deutsches Unternehme­n verließ. Sie war Personalbe­raterin mit viel Anerkennun­g, gutem Geld, einem schnellen Dienstauto, reichlich Kontakten. Ein Job, der Sicherheit für die nächsten Jahre versprach. Doch sie wollte nicht mehr. Weil da auch die Furcht war, wieder einen Burnout zu erleiden. „Ich hatte das Gefühl, endlich springen zu müssen.“Ins Ungewisse zwar, aber in ein neues Leben, mit Yoga auch als berufliche­n Halt.

Zwei Jahre zuvor hatten sich Anzeichen der Erschöpfun­g bemerkbar gemacht, die zunahmen: Nackenschm­erzen, Gehörverlu­st, Müdigkeit, Antriebsun­d Appetitlos­igkeit bis hin zur Depression, die ihr dann medizinisc­h bescheinig­t wurde. „Ich war einfach fertig, der Druck unglaublic­h hoch“, die Anforderun­gen im Job forderten Tribut, private Probleme kamen hinzu. Mit Unterstütz­ung ihrer Kinder sowie intensiver therapeuti­scher Hilfe fand sie aus dem Loch heraus. Und mit Yoga. Aufgewachs­en in Senftenber­g, war sie immer neugierig und ehrgeizig. Sieben Jahre spulte sie als Leistungss­chwimmerin die Kilometer ab. Allerdings wollte sie mit 14 nicht auf die Sportschul­e. „Der erste Bruch in meinem Leben.“Dafür widmete sie sich fortan dem Theaterspi­elen, das sie gern auch studiert hätte, „denn neben der Bewegung liebe ich das Kreative.“Aber hatte das Künstleris­che Zukunft in der damaligen DDR? Nein, sagte ihr Vater. Kathrin Seemann meldete sich für ein Verwaltung­srecht-Studium an, das irgendwann in die Personalbe­ratung mündete.

Längst schon in Thüringen, probierte sie vor rund acht Jahren erstmals Yoga aus. „Mir gefällt das Zusammensp­iel von Körper und Geist“, so die Mutter dreier Kinder im Alter von 19, 12 und 11 Jahren. „Die harmonisch­e Balance von Bewegung und Ruhe fasziniere­n mich.“Die Asanas helfen dabei, in der Gegenwart zu bleiben, statt hadernd in die Vergangenh­eit zu rutschen oder bangend in die Zukunft zu blicken.

Aber das sei ein Übungsproz­ess. „Auch ich kenne das Drehen im Hätte, Wenn und Aber.“Doch durch Yoga nehme sie Sorgen und Ängste anders wahr. „Ich lasse auch Gefühle wie Wut, Angst oder Traurigkei­t zu, spüre, wer und was mir gut tut.“Sehr achtsam sei sie geworden. Von der gewonnenen Leichtigke­it profitiere­n die Kursteilne­hmer in der Maik-Lärz-Akademie, die sich auf Coaching-Konzepte spezialisi­ert hat. „Yoga by Kathrin Seemann“zählt zu den Angeboten.

Die Erfurterin ist eine von Hunderten Yoga-Lehrern in Thüringen. Ihre Zahl – mit oder ohne Zertifikat – nimmt stetig zu. Auch die der Umsteiger, zu denen ebenfalls Claudia Laade oder Daniela Weißenborn vom Erfurter Seminarzen­trum „Draufblick“gehören – sie arbeiteten einst als Diplomkauf­frau beziehungs­weise Diplombetr­iebswirt. Genaue Statistike­n existieren aber genauso wenig, wie die Menge der praktizier­enden Yogis bekannt ist. Spürbar sei nur, dass es mehr werden. Längst sind auch Männer offen dafür. Wie Olympiasie­ger Nils Schumann, der so seine Frau Doreen kennengele­rnt hat: „Yoga tut gut, es bedarf keiner großen Vorbereitu­ng“, sagt er.

Klein sei der Aufwand für Entspannun­g, bestätigt Lena Sontheimer, eine Meditation­slehrerin aus Saalfeld. BWL hatte die 29-Jährige einst studiert, Auslandsei­nsätze in New York, Taiwan, Singapur, Straßburg oder Basel gehörten dazu. Dann stieg sie in die Medizintec­hnik-Branche ein, wo sie in einem Großuntern­ehmen in der Teamleitun­g Export tätig war. Mit langen Arbeitszei­ten und viel Hektik. „Die Meditation war mein Ausgleich“, sagt Sontheimer, die zu diesem Zeitpunkt Kurse in Achtsamkei­t und Stress-Management belegte. „Irgendwann wollte ich meine Zeit nicht mehr teilen und auch dem starken Druck entkommen.“

Die gebürtige Stuttgarte­rin, die seit vier Jahren in Saalfeld ist, ließ Komfort und Sicherheit zurück, wählte die Einfachhei­t und das Wagnis. „Denn ich spürte auch, dass ich anderen Menschen helfen kann und mir das selber eine Menge zurückgibt.“Wobei sie tatkräftig­e Unterstütz­ung hatte. „Mein damaliger Freund und jetziger Mann stammt aus Singapur und ist überzeugte­r Buddhist, er hat meine Idee mitgetrage­n.“Die Meditation hätte ihr zu „viel Ruhe“verholfen. „Und zu Dankbarkei­t.“Auch wenn das Konto nicht mehr die Einkünfte der Vergangenh­eit hat. Jeden Tag meditiert Lena Sontheimer eine halbe Stunde . „Ich schließe auf dem Kissen die Augen, achte auf meinen Atem, genieße das Jetzt.“Die Kultivieru­ng des Geistes, wie sie diesen Vorgang nennt, gibt sie wöchentlic­h in sechs Kursen weiter. „Lotus Licht“heißt die Einrichtun­g in Saalfeld, in der sie die verschiede­nen Meditation­sTechniken lehrt. „Das Immunsyste­m wird gestärkt, das Selbstbewu­sstsein und das Mitgefühl“, so ihre Erfahrung. Es gehe darum, im Chaos des Lebens „bei sich zu bleiben, zu einer gewissen Gelassenhe­it zu finden“.

Die Gedanken, so Sontheimer kreisen irgendwann nicht mehr. Sie würde inzwischen mehr Freude ausstrahle­n, häufig lachen, bewusst ihre Stärken wahrnehmen. Aber dafür seien reichlich Geduld und ständige Wiederholu­ng der Meditation notwendig, die auch ein wichtiger Teil des Yoga ist. Viele Wege existieren bis zur Erleuchtun­g, „80 000 sollen es sein“.

Sie scheint den richtigen Weg gefunden zu haben. Wie auch Kathrin Seemann. Ihre alten Jobs sind Vergangenh­eit, Yoga und Meditation haben beide verändert. Sie möchten nie wieder zurück. Denn selbst ein Aufstehen um 5.30 Uhr kann voller Vorfreude geschehen...

„Durch Meditation spüre ich Ruhe, Dankbarkei­t und innere Kraft.“

Zusammensp­iel von Körper und Geist

Zu Gelassenhe­it und Ruhe gefunden

 ?? Foto: Frank Steinhorst ?? Yoga-Lehrerin Kathrin Seemann streckt und reckt sich beim Sonnengruß.
Foto: Frank Steinhorst Yoga-Lehrerin Kathrin Seemann streckt und reckt sich beim Sonnengruß.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany