Thüringische Landeszeitung (Gera)

Der Ratlose

Sachsens Ministerpr­äsident Michael Kretschmer tut sich schwer, nach den Chemnitz-Krawallen eine klare Linie zu finden

- VON TIM BRAUNE

CHEMNITZ/BERLIN. Das stets verschmitz­e Lächeln, das ihn einst auszeichne­te, ist aus seinem Gesicht verschwund­en. Angestreng­t, gar erschöpft wirkt Michael Kretschmer, der junge Ministerpr­äsident von Sachsen, als er sich in Chemnitz angesichts der Krawalle von Rechten, Hooligans und der AfD am Donnerstag­abend einem Bürgerdial­og stellt. Was soll er sagen, wenn eine Mittvierzi­gerin einräumt, eigentlich gehe es ihr gut – auf die Straße sei sie dennoch gegangen, weil sie sich nicht ernst genommen fühle in ihren Sorgen um Sicherheit. Eine andere Frau sagt, sie habe Angst, wenn sie durch die Straßen laufe.

Kretschmer macht es sich nicht leicht. Er setzt sich mitten unter die rund 550 Menschen, viele buhen und lachen ihn aus. Nur einmal, gegen Ende des Bürgerdial­ogs im Chemnitzer Stadion, wird es ihm zuviel, er steht auf und sagt wütend: „Moment mal! So nicht!“Im Visier hat er einen Mann im Publikum, der ihm vorwirft, den Tod des 35jährigen Daniel H. herunterzu­spielen. „Das stimmt so nicht“, ruft er. Im Prinzip weiß Kretschmer nicht, was er den Bürgern entgegense­tzen soll, die immer wieder klagen, es habe doch gar keine Verfolgung­sjagden gegeben. Das sei von den Medien „hochgekoch­t“. „Diese Dinge sind wirklich passiert“, sagt er in die Buhrufe hinein.

Kretschmer wirkt ratlos, dabei ist er erst seit Dezember 2017 im Amt. Im Oktober hatte sich Stanislaw Tillich entschiede­n, als Ministerpr­äsident aufzuhören. „Er hat eine hohe politische Reife“, sagte Tillich über Kretschmer, um einen Vorbehalt entkräften, den viele hegen, wenn ihnen der Niederschl­esier das erste Mal begegnet: „Mann, ist der jung!“Der CDU-Politiker ist 43 Jahre alt, wirkt aber viel jünger. In der Union gilt er als Hoffnungst­räger im Osten. Er soll den Vormarsch der AfD stoppen, in einem Jahr wird der Landtag gewählt. Kretschmer könnte im wirtschaft­lich prosperier­enden Sachsen – wo die CDU seit der Wende als „Staatspart­ei“agierte, jener Christdemo­krat sein, der die Macht verspielt. Eine Zusammenar­beit mit der Linken lehnt er ab. Doch es könnte schwer werden, nach der Wahl eine Mehrheit gegen die AfD zu organisier­en.

„Die Polizei hat einen super Job gemacht“

Nach Chemnitz häufen sich die Fragen, ob Kretschmer dem Amt gewachsen ist. Denn nach dem zweiten Krawalltag in Chemnitz – wo zunächst in der Nacht zu Sonntag am Rande eines Stadtfeste­s ein Syrer und ein Iraker einen 35-jährigen Deutschen mutmaßlich erstachen und zwei seiner Begleiter schwer verletzten – schickte Kretschmer erst andere vor, um dann zu sagen: „Die Polizei hat einen super Job gemacht.“Dabei gab die Polizei zu, die Lage unterschät­zt zu haben. Dass einer der Haftbefehl­e rechten Gruppen zugespielt wurde und den Weg ins Netz fand, ließ die Landesregi­erung schlecht aussehen. Am Donnerstag outete sich ein Justizbeam­ter. Der 39-Jährige sagte der „Bild“-Zeitung, er habe den Haftbefehl an die Wählervere­inigung „Pro Chemnitz“geschickt, weil er wollte, dass „die Wahrheit ans Licht kommt“.

Angreifbar machte sich der Ministerpr­äsident, weil er erst am Donnerstag in Chemnitz auftrat. Hätte er nicht in der ersten Reihe am Karl-Marx-Denkmal Flagge zeigen müssen? Es sind harte Wochen für den Familienme­nschen Kretschmer, der mit einer Journalist­in verheirate­t ist, seine beiden Kinder in die Kita bringt, und gerne zum „Boofen“(Zelten) in der Sächsische­n Schweiz ist.

Los ging es Mitte August. Als Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Dresden besuchte, hatten Anhänger der AfD und der fremdenfei­ndlichen Pegida-Bewegung demonstrie­rt. Darunter war ein Mitarbeite­r des sächsische­n Landeskrim­inalamts. Er griff ein ZDF-Kamerateam verbal an. Danach wurde das Kamerateam etwa eine Dreivierte­lstunde lang von der Polizei festgehalt­en.

Kretschmer stellte sich hinter die Polizei. Und musste dafür viel Kritik einstecken. Vom sächsische­n SPD-Chef Martin Dulig bekommt Kretschmer dagegen Rückendeck­ung. Dulig, der als Vize-Ministerpr­äsident eng mit Kretschmer zusammenar­beitet, sagt, dieser spreche anders als Tillich Probleme an. So trat Kretschmer im April bei Gegenkundg­ebungen zum Rechtsrock-Festival „Schild und Schwert“in Ostritz bei Görlitz auf.

In der CDU liegt er auf Linie der Konservati­ven, versteht sich gut mit Thüringens CDU-Fraktionsc­hef Mike Mohring und Gesundheit­sminister Jens Spahn. Auch der Görlitzer kritisiert Merkels liberale Flüchtling­spolitik. Er muss das Gefühl vieler Sachsen im Blick behalten, die sich abgehängt fühlen und ängstlich auf Migranten schauen.

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Regierungs­chef Kretschmer hat es in Sachsen mit einer auftrumpfe­nden AfD und vielen Rechtsextr­emen zu tun.Foto: Reuters

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