Thüringische Landeszeitung (Gera)
„Familienleben ist bunt und vielfältig“
Zum Auftakt der TLZ-Familienzeit: Gespräch mit Verbandspräsident Klaus Zeh über hohe Belastungen für Familien und Wahlrecht ab Geburt
ERFURT. Klaus Zeh war in Thüringen Finanzminister, Sozialminister, Chef der Staatskanzlei und bis Mai 2017 Nordhausens Oberbürgermeister. Seit 2011 ist der Christdemokrat im Ehrenamt Präsident des Deutschen Familienverbandes (DFV). Im Interview fordert der 65-Jährige – seit 1976 verheiratet, zwei Kinder, fünf Enkel – eine familiengerechtere Gesellschaft.
Herr Zeh, was bedeutet für Sie Familie?
Wir als Familienverband vertreten alle Familien. Wir sind ebenso da für Vater und Mutter, die verheiratet sind und ein Kind oder mehrere Kinder haben, wie für große Familien, für Alleinerziehende oder Familien mit Migrationshintergrund. Familienleben ist bunt und vielfältig. Wichtig ist, dass Kinder in Geborgenheit und Sicherheit aufwachsen.
Gleichgeschlechtliche Eltern haben Sie in Ihrer Aufzählung weggelassen. Absichtlich?
Nein. Ich hätte für solche Konstellationen nicht gekämpft. Aber sie gehören zur Realität. Dort, wo Verantwortung für Kinder übernommen wird, geht es immer um das Wohl der Kinder. Dies muss immer berücksichtigt sein. Der Deutsche Familienverband fühlt sich für alle Lebensgemeinschaften zuständig. Aber statistisch ist es so, dass die klassische Familie immer noch das häufigste Modell in Deutschland ist. Das muss die Familienpolitik im Blick behalten.
Welche Ursachen sehen Sie, dass immer weniger Familien viele Kinder haben?
In Deutschland läuft einiges schief. Von der gerne im Munde geführten Familienfreundlichkeit ist oftmals viel zu wenig zu spüren. Wir brauchen keine Familien, die auf die Arbeitswelt angepasst sind, sondern wir brauchen eine Lebenswelt, die auf Familien mehr Rücksicht nimmt. Die Gesellschaft muss familiengerechter werden.
Was ist für Sie ein familiengerechter Betrieb?
Es wäre zum Beispiel gut, Familienmitgliedern mit Kindern zu ermöglichen, vorübergehend in Teilzeit zu arbeiten. Allerdings sollte das mit der Option verbunden sein, nach drei bis fünf Jahren wieder zur Vollzeit zurückkehren zu können, damit Familien nicht in die Teilzeitfalle tappen und dauerhaft Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Zudem müssen Arbeitszeit-Modelle flexibler gestaltet und Lebenszeit-Konten eingeführt werden – und dabei braucht es auch eine finanzielle Flankierung von Erziehungsphasen.
Klingt gut. Aber Fakt ist, dass das Armutsrisiko steigt, je mehr Kinder eine Familie hat.
Das stimmt. Und obwohl das seit Jahren bekannt ist, wird zwar an der einen oder anderen Stelle nachjustiert, aber der grundsätzliche Befreiungsschlag bleibt aus.
Geht es etwas konkreter?
Wir haben berechnet, dass einer Normalverdiener-Familie mit zwei Kindern und einem Einkommen von 35 000 Euro brutto im Jahr nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen weniger bleibt als das Existenzminimum. Diese Schere geht seit Jahren auseinander. Er muss zumindest die Belastungen der Familien mehr im Blick haben. Der Steuerfreibetrag von Erwachsenen liegt bei 9000 Euro, für Kinder liegt er unter 7500 Euro. Wir sagen: Die Kinder sind gleich viel wert, manchmal sogar teurer. Der Freibetrag von Kindern sollte auf das Niveau der Erwachsenen angehoben werden. Richtig. Familien mit Kindern sollten weniger Sozialversicherung zahlen. Nachdem wir vor dem Bundessozialgericht mit einem entsprechenden Vorstoß noch keinen Erfolg hatten, liegen unsere Klagen jetzt beim Bundesverfassungsgericht. Wir wollen den generativen Beitrag der Eltern mit Kindern berücksichtigt wissen. Die heutige Kindergeneration stellt die Rentenzahler von morgen. Eltern sichern mit der Kindererziehung die Zukunft der Rente und übrigen Sozialversicherungen. Sie tragen dabei hohe Kosten und bekommen dafür bei der Rente auch noch weniger. Das muss sich ändern. Aus diesem Grund halten wir auch die Mütterrente – und zwar eine wesentlich bessere als bislang geplant – für absolut richtig.
Nicht nur der Staat, auch die Privatwirtschaft lässt Familien bisweilen im Regen stehen. Stichwort: bezahlbarer Wohnraum.
Auch hier fordern wir ein Umsteuern. Die Explosion der Mietpreise verdrängt viele Familien an die Ränder der Städte. Das schneidet Familien von einer guten Infrastruktur ab und zwingt sie zu teurem und zeitaufwendigem Pendelverkehr, und die Städte kostet es ihre Lebendigkeit. Aus diesem Grund haben wir auch für das Baukindergeld gestritten. Das ist nicht der Weisheit letzter Schluss, aber es geht in die richtige Richtung. Optimal wäre es, wenn der Bund für Familien die Eigenheimzulage wieder einführen würde.
Wäre anstelle des Baukindergeldes nicht eine Senkung der Grunderwerbsteuer effektiver?
Warum „anstelle“? Das Ganze ist ein Paket. Die Grunderwerbsteuer, die von den Ländern erhoben wird, sollte in Thüringen wieder gesenkt werden. Die Kassen des Freistaats sind voll, auf dieses Geld ist Thüringen nicht angewiesen, aber für Familien wäre es eine Erleichterung auf dem Weg zu den eigenen vier Wänden. Ich unterstütze Modelle, in denen die Menschen mehr aufeinander achtgeben können. Und das möglichst generationenübergreifend. Für mich steht diese Option aber nicht. Wir sind eine Familie, die gut zusammenhält und in der jeder seinen Platz hat.
Sind Flüchtlingsfamilien für Sie eine Bereicherung fürs Land?
Ja, für mich sind Begegnungen mit anderen Kulturen immer eine Bereicherung. Das führt im Dialog regelmäßig dazu, eigene Werte und Standpunkte zu hinterfragen oder zu bestätigen. Wie andere Bürger in Nordhausen engagieren sich auch meine Frau und ich in diesem Bereich. Man muss sich aufeinander einlassen und bereit sein, Flüchtlingsfamilien im Alltag zu helfen. Dann wird klar, dass manche Vorbehalte und Ängste unbegründet sind.
Spüren Sie eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit?
Nicht generell. Natürlich gibt es Menschen, die immer schimpfen und fremde Kulturen und Religionen als Bedrohung ansehen. Und bei Behörden spüre ich manchmal die Ungeduld der Mitarbeiter, wenn sie es mit Migranten zu tun haben, die der deutschen Sprache noch kaum mächtig sind. Genau hier setzt die engagierte Arbeit des Deutschen Familienverbandes in Thüringen an, der geflüchtete Menschen zum Beispiel bei Behörden- oder Arztgängen begleitet. Für sein Engagement wurde der DFV gerade erst mit dem Paritätischen Ehrenamtspreis ausgezeichnet.
Gehört der Islam für Sie zu Deutschland?
Das ist für mich keine Frage, die uns weiterbringt. Deshalb lehne ich eine Antwort darauf ab. Ich bin der Auffassung: Die Menschen, die islamischen Glaubens sind und hier leben, die gehören zu Deutschland.
Die rot-rot-grüne Landesregierung hat das von der CDU einst eingeführte Landeserziehungsgeld abgewickelt. Als Christdemokrat müssen Ihnen doch die Tränen kommen, oder?
Ich halte die Abschaffung nach wie vor für einen Fehler. Das Erziehungsgeld hat dazu geführt, dass die Eltern nicht aus finanziellen Erwägungen gezwungen waren, ihr Kind zu früh in eine Betreuungseinrichtung zu geben. Das war keine „Herdprämie“, wie vom politischen Gegner kritisiert, sondern ein Beitrag zur Wahlfreiheit.
Wertschöpfung geführt hätten.
Einen Rechnungshof würde ich nie für die Beantwortung der Frage heranziehen, ob etwas familienpolitisch sinnvoll ist. Die Behörde soll sich darum kümmern, ob Geld gemäß den gesetzlichen Vorgaben eingesetzt wird. Alles andere liegt für mich außerhalb der Zuständigkeit des Rechnungshofs.
Rot-Rot-Grün hat anstelle des Erziehungsgelds das beitragsfreie Kita-Jahr eingeführt und damit Eltern finanziell entlastet. Was ist falsch daran?
Ich will die Leistungen nicht gegeneinander ausspielen. Aber man sollte doch nicht so tun, als sei nur für eines von beiden genug Geld da. Wenn ich mir die demografische Entwicklung in Thüringen anschaue, bin ich überzeugt, dass die familienpolitischen Maßnahmen bei Weitem nicht ausreichen. Ich muss den Eltern mehr Mut machen, Kinder zu haben. Wenn ich das nicht mache, muss ich mit den Konsequenzen leben. Der Fachkräftemangel ist teils selbstverschuldet, weil zu wenige Kinder in Thüringen geboren wurden.
Sollten Kindergärten generell beitragsfrei sein?
Hier muss man unterscheiden zwischen Kleinkindern und Kindergartenkindern. Kleine Kinder brauchen vor allem Geborgenheit, Sicherheit und Liebe. Und die bekommen sie in den ersten Lebensjahren am besten von den Eltern. Dort, wo Familien sich für ein Betreuungsangebot entscheiden, gilt: Je familienähnlicher Betreuungsangebote sind, umso besser. Deshalb fordern wir während der ersten drei Lebensjahre des Kindes Wahlfreiheit für junge Familien durch eine direkte finanzielle Unterstützung. Der Kindergarten ab dem 4. Lebensjahr muss im Rahmen des Rechtsanspruchs bundesweit gebührenfrei sein. Und für alle Altersstufen fordern wir, in die Qualität der Betreuung zu investieren: Wir brauchen zusätzliche, gut qualifizierte und gut bezahlte Erzieherinnen.
Ist dafür zwingend ein Hochschulabschluss erforderlich?
Nein. Das ist das falsche Signal. Für die Erziehung von Kindern muss ich nicht unbedingt ein Studium an einer Universität oder Fachhochschule absolviert haben, sondern ich brauche die nötige Empathie.
Ihr Verband macht sich auch für das Wahlrecht von Kindern stark. Warum?
Ganz einfach: Weil die Kinder und damit die Zukunft im Moment an der Wahlurne überhaupt nicht vorkommen. Deswegen fordern wir ein Wahlrecht von Geburt an. Erst wenn die nächste Generation mitbestimmen darf, wird sich etwas zu ihren Gunsten ändern.
Wie soll das im Detail aussehen?
Beim Wahlrecht ab Geburt erhält jeder Mensch von Geburt an eine Stimme. Die Eltern nehmen das Wahlrecht für ihre Kinder bis zur Wahlmündigkeit treuhänderisch wahr. Erst dann gilt wirklich: ein Staatsbürger, eine Stimme. Momentan wird den etwa 13 Millionen Kindern in Deutschland das Wahlrecht vorenthalten. Das ist ein riesiges Demokratiedefizit. Wir fordern, Artikel 38 Absatz 2 Grundgesetz zu ändern, der momentan noch alle unter 18-Jährigen vom aktiven Wahlrecht ausschließt.