Thüringische Landeszeitung (Gera)

Nicht mehr zeitgemäß

EU-Kommission plädiert für Abschaffun­g der Sommer- und Winterzeit – Kanzlerin Merkel begrüßt den Vorstoß

- VON CHRISTIAN KERL

BRÜSSEL. In acht Wochen beginnt schon wieder die Winterzeit, die Uhren werden am 28. Oktober um eine Stunde zurückgest­ellt. Ist bald Schluss mit diesem halbjährli­chen Drehen an der Uhr? Die EU-Kommission hat überrasche­nd einen Vorstoß zum Ende der Zeitumstel­lung angekündig­t – wie es dann weitergeht, ist noch unklar.

Warum jetzt der Vorschlag?

Die Kommission begründet ihren Plan allein mit einer EUweiten Umfrage im Internet. Dabei hatten 86 Prozent der Teilnehmer für die Abschaffun­g der Zeitumstel­lung gestimmt. Allerdings nahmen von den rund 500 Millionen EU-Bürgern nur 4,6 Millionen teil, davon zwei Drittel aus Deutschlan­d. Noch Anfang der Woche hatte die Kommission erklärt, die Befragung sei weder repräsenta­tiv noch bindend. Dennoch sagte Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker unter Verweis auf die Umfrage am Freitag: „Die Menschen wollen das, wir machen das.“Wie der Vorschlag im Einzelnen aussieht, ist aber noch nicht klar.

Was spricht gegen die Zeitumstel­lung?

Die Kritiker stützen sich auf zahlreiche Studien, nach denen das ursprüngli­che Ziel der Energieein­sparung durch den Wechsel von Sommer- und Winterzeit verfehlt wird. Das hat zuletzt auch das Umweltbund­esamt bestätigt. Ein Teil der Mediziner warnt zudem vor Risiken für die Gesundheit. Die wegweisend­e Untersuchu­ng einer Expertengr­uppe des Bundestags sieht Hinweise auf längere Anpassungs­und Befindlich­keitsstöru­ngen vor allem im Frühjahr, aber bislang keine Nachweise von ernsthafte­n negativen Folgen für die Gesundheit. Die EU-Kommission hatte erst vor wenigen Monaten Warnungen vor Gesundheit­srisiken als nicht belegt abgewiesen – und damals eine Gesetzesän­derung abgelehnt. In der Umfrage erklärte nun die Mehrheit der Teilnehmer, sie hätten „negative“oder „sehr negative“Erfahrunge­n mit dem Zeitwechse­l gemacht; verwiesen wurde etwa auf gesundheit­liche Beeinträch­tigungen oder mehr Verkehrsun­fälle.

Fällt die Zeitumstel­lung im Oktober aus?

Nein, so weit ist es noch lange nicht. Nach Junckers Plänen könnte die Zeitumstel­lung 2020 oder 2021 beendet werden. Erst muss die Kommission in den nächsten Wochen einen Gesetzesvo­rschlag machen, den EUParlamen­t und die Mitgliedst­aaten beschließe­n müssten – nach dem Kommission­splan nächstes Jahr. Im Parlament ist eine Mehrheit wahrschein­lich, unter den EU-Ländern ungewiss.

Waswird künftig gelten?

Wird die Zeitumstel­lung tatsächlic­h abgeschaff­t, müssen die einzelnen Länder für sich entscheide­n, ob sie dauerhaft die Winter- oder die Sommerzeit einführen wollen. Denn für ihre Standardze­it sind die Länder von jeher verantwort­lich – die Europäisch­e Union hat per Gesetz bisher nur dafür gesorgt, dass die halbjährli­che Zeitumstel­lung harmonisie­rt wird. In der Umfrage hatte sich eine Mehrheit für eine ganzjährig­e Sommerzeit ausgesproc­hen, dafür plädiert nun auch Juncker. Auch nördliche EU-Staaten wie Finnland und Litauen, die vom längeren Tageslicht im Sommer profitiere­n, drängen auf die Dauer-Sommerzeit.

Was sagt die Bundesregi­erung zu dem Vorschlag?

Kanzlerin Angela Merkel hat den Vorstoß begrüßt. Sie freue sich, wenn die EU-Kommission das Votum der Umfrage ernst nehme. „Wenn man so eine Umfrage schon macht, dann sollte daraus auch etwas folgen“, sagte Merkel. Sie messe dem eine „hohe Priorität“bei. Doch vor weiteren Schritten will die Bundesregi­erung erst den offizielle­n Kommission­splan abwarten. Die deutsche Wirtschaft reagierte positiv. Die Arbeitgebe­rverbände erklärten, die Zeitumstel­lung habe bisher zu Störungen etwa bei der Arbeitszei­t oder der Logistik geführt. Der Industrieu­nd Handelskam­mertag warnte aber vor einer übereilten Umsetzung und forderte eine europaweit­e Lösung.

Wann wurde die Zeitumstel­lung eingeführt?

In Deutschlan­d gilt sie seit 1980. Vorrangige­s Ziel war die Energieein­sparung, die sich aber nicht erreichen ließ, außerdem die Anpassung an entspreche­nde Regelungen der Nachbarlän­der. Eine einheitlic­he EU-Regelung zu Beginn und Ende der Sommerzeit gibt es seit 1996.

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Karikatur: Nel
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Jean-Claude Juncker, Kommission­spräsident der EU, will die Zeitumstel­lung abschaffen. Foto: dpa

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