Thüringische Landeszeitung (Gera)
„Im Osten bekommen Grüne gerade eine zweite Chance“
Parteivorsitzende Baerbock: Bundesweiter Höhenflug wirkt auch in Thüringen
Erfurt. Der bundesweite Höhenflug macht sich aus Sicht der Grünen auch in Thüringen bemerkbar.
„Im Osten bekommen wir Bündnisgrüne gerade eine zweite Chance“, sagte die Bundesvorsitzende Annalena Baerbock im Interview mit dieser Zeitung. Im Bund lagen die Grünen Umfragen zufolge jüngst vor der Union. Bei den Europawahlen habe man das Ergebnis im Osten verdoppelt, auch in Thüringen. „Es ist also nicht so schwarzweiß. Auch in mittelgroßen Kommunen und in ländlichen Gebieten haben wir deutlich zugelegt. Diese Entwicklung gibt es in West und Ost gleichermaßen“, betonte Baerbock am Rande des Landesparteitags am Samstag in Erfurt. Dort verabschiedeten die Grünen ihr Programm für die Landtagswahl am 27. Oktober. „Mit uns wird es eine Mobilitätsgarantie geben, weil nur so Klimaschutz funktioniert“, so Umweltministerin und Spitzenkandidatin Anja Siegesmund. Als Ziel peilen die Grünen in Thüringen „zehn Prozent plus X“an.
Beim Parteitag in Gera, wo die SPD ihre Kandidatenliste aufstellte, forderte der Vorsitzende Wolfgang Tiefensee seine Partei auf, offensiv um AfD-Wähler zu werben. „Es geht darum, dass wir die AfD argumentativ stellen“, sagte er. „Hören wir den Menschen zu und lassen wir uns erklären, wie die Lebenswirklichkeit ist.“Sorgen und Ängste seien aber kein Grund, ein Kreuz bei der AfD zu machen. „Da gehört es nicht hin.“Tiefensee wurde als Spitzenkandidat auf Listenplatz eins bestätigt. Die FDP traf sich in Bad Frankenhausen (Kyffhäuserkreis), um ihr Landtagswahlprogramm zu beschließen. Darin fordert sie mehr Autonomie für Schulen sowie eine attraktivere Berufs- und Meisterausbildung.
Erfurt. Es war spät geworden am Freitag. Stundenlang saßen rund 40 Grüne im Anschluss an die Landtagssitzung noch zusammen, um über die 331 Änderungsanträge zum Wahlprogramm zu diskutieren. Die meisten Konfliktherde konnten schließlich ausgeräumt werden. Manche verließen das Gebäude aber erst gegen ein Uhr morgens. Keine zehn Stunden später versammeln sich gut 100 grüne Delegierte im Erfurter Zughafen, einem Szenetreff für Künstler und Kreative. Sie wollen das Programm für die Landtagswahl endgültig beschließen. Der bundesweite Höhenflug ist zu spüren, obwohl sich die Umfragen im Rahmen halten, die Stimmung ist gut. Wenn gemosert wird, dann darüber, dass es zwar Stühle, aber keine Tische gibt. Auf 70 Seiten haben die Grünen ein Plädoyer für Klima- und Naturschutz sowie gesellschaftlichen Zusammenhalt und gegen die Massentierhaltung verfasst. Sie setzen sich für Schnellradwege zwischen Städten und thüringenweite Nahverkehrstickets ein. Umweltministerin Anja Siegesmund steht auf der Bühne, hinter ihr ist groß „Jetzt geht es um morgen“zu lesen. „Wir sind die Öko-, Umweltund Zukunftspartei“, ruft Siegesmund, die auch Spitzenkandidatin ist. Das kommt an.
In der ersten Reihe sitzen Parteichefin Annalena Baerbock und einer ihrer Vorvorgänger, Reinhard Bütikofer, der gerade wieder ins EU-Parlament gewählt wurde. Beide sehen zufrieden aus. Baerbock sagt „Wer Kohle verbrennt, muss einen Preis zahlen“und kündigt eine CO2-Initiative im Bundestag an. Bütikofer berichtet von den grünen Erfolgen in Europa und sagt, dass er sein Regionalbüro von Schwerin nach Erfurt verlagern wolle und im Wahlkampf gerne helfen werde. Landtagsfraktionschef und Spitzenkandidat Dirk Adams meint, 100 Prozent auf erneuerbare Energien zu setzen, sei bis 2037 zu schaffen. „Wir wollen den Leuten nichts versprechen, was wir hinterher nicht halten können.“
Während draußen KarottenZucchini-Klöpse, vegane Pizzaschnecken und die Fettbemmen knapp werden, geht es in der Halle darum, ob man das Wahlalter nicht auf null Jahre heruntersetzen sollte. Doch die Grüne Jugend kann sich nicht durchsetzen. Auch eine verschärfte Videoüberwachung auf Polizeirevieren findet keine Mehrheit.
Justizminister Dieter Lauinger meldet sich mehrfach zu Wort. „Bei der Flüchtlingspolitik dürfen wir uns nicht wegducken“, sagt er und fordert klare Kante gegen die AfD. „Das wird von uns erwartet. Kein anderer wird es machen“, ist er überzeugt. Die SPD eiere bei dem Thema rum.
Umweltstaatssekretär Olaf Möller knöpft sich den großen Koalitionspartner vor, der die Landwirtschaft ministeriell verantwortet. „Die Linken haben dieses Ressort nur verwaltet“, sagt Möller. Die Grünen dagegen hätten unter anderem mit der Schaf-Ziegen-Prämie Akzente gesetzt. „10 Prozent plus X“ist das Ziel für die Landtagswahl. Rot-Rot-Grün soll fortgesetzt werden. Falls es nicht reicht, will man aber mit allen demokratischen Parteien sprechen.
Am späten Nachmittag ist das Programm verabschiedet. Es herrscht Harmonie auf offener Bühne. Kurz wird sogar eine Kleiderfrage zur Nachricht. Baerbock verrät, dass sie sich mit Fraktionschefin Katrin GöringEckardt per SMS abspricht, um bei öffentlichen Auftritten nicht zu ähnlich angezogen zu sein.