Thüringische Landeszeitung (Gera)
Kein Sommer wie jeder andere
Kunstfest Weimar Die dreißigste Ausgabe des Festivals ist die erste der Ära Rolf C. Hemke. Sie beginnt am Mittwoch
Weimar. Irritationen gehören zur Kunst, und also erst recht zu jenem besonderen Fest, das Weimar ihr nun im dreißigsten Jahr ausrichtet. Die leichte Irritation des Rolf C. Hemke hatte in den vergangenen Wochen mit Kunst allerdings wenig zu tun, wohl aber mit Rhythmus. „Vorher war der Sommer einfach Sommer.“Jetzt bedeutete er für ihn: Arbeitszeit. Hemke befindet sich gleichsam in einer Umgewöhnungsphase. Und die betrifft nicht nur den Abschied von Theaterferien, die er üblicherweise genösse, arbeitete er noch als Kurator und Dramaturg am Theater an der Ruhr/Mülheim. Womöglich hätte er sie zurückgezogen am Schreibtisch verbracht, um sich dem neuen Buchprojekt zu widmen, das jetzt erstmal liegen bleibt. Und auch seine Stute, die auf einer Koppel in der Lüneburger Heide steht, bekommt ihn, den passionierten Reiter seit Kindertagen, eher selten zu Gesicht.
„Mein Leben hat sich ziemlich verändert“, erzählt Hemke. Der 47-jährige gebürtige Kölner war Anfang 2018 zum Chef des Kunstfestes berufen worden. Ehe er sich‘s versah, sind eineinhalb Jahre vorüber, in denen er auf zunächst zweieinhalb Wochen hinarbeitete: das erste Festival seiner Prägung. Es beginnt an diesem Mittwoch – und damit auch eine Umgewöhnungsphase, fürs Publikum. Einen kompletten Neustart legt Hemke dabei keineswegs hin. Dass er sich um Kontinuität bemühen will, erklärte er bereits kurz nach der Berufung. Was das bedeuten mag, liest sich im Programmheft nun so: Man habe „einen Mittelweg zwischen den beiden Konzeptionen von Nike Wagner und Christian Holtzhauer gewählt“, Hemkes Vorgängern.
Er zieht daraus Inspiration, um doch eine eigene Handschrift zu wagen. Holtzhauers Kunstfest, das stark auf Theater und Performance ausgerichtet war, erweitert er um mehr Musik und Musiktheater. So zeigt die englische Regisseurin Katie Mitchell an diesem Wochenende ihre Version von Schumanns „Dichterliebe“. Insgesamt wird daraus: „ein Programm, das gern klassische Formen
„Man sollte nicht denken, dass die Arbeit irgendwann einmal geschafft wäre.“Rolf C. Hemke (47),
Kurator und Dramaturg, künstlerischer Leiter des Kunstfestes Weimar
zeitgenössisch deutet und deshalb stark für Weimar konzipiert ist“. Womit Hemke die Stadt meint und das, wofür sie steht. Dazu stellt er neue Bezüge her, „spielerisch und assoziativ“, und will dabei all die Erwartungen, überregional wirksam zu sein, gewiss nicht aus dem Auge verlieren. Hemke geht volles Risiko und hält seinen Kopf dafür hin. „Ich habe den Erfolg nicht einkalkuliert“, sagt er über sein Programm. Er versuche eben einfach nur, es zum Erfolg zu führen, schon im eigenen Interesse. Dafür schickt er unter anderem „deutlich mehr Tickets“in den Verkauf: 11.400 statt 6500 bis 8000. Derart will Hemke die Eigeneinnahmen stärken. „Das könnte zu einem wichtigen Korrektiv in der chronischen Finanznot werden, in der sich das Festival befindet: seit Jahren gedeckeltes Budget ohne Ausgleich für Inflation oder Tarifsteigerungen.“So finden allein sieben Abende im großen Haus des Nationaltheaters statt. Die Weimarhalle, die ihm auch zupass käme, meidet Hemke indes, weil
er hohe Mieten sparen will. Einzig die Staatskapelle konzertiert dort, wie üblich, und bringt die erste Sinfonie ihres Ex-Chefs George Alexander Albrecht zur Uraufführung. Hemkes Kunstfest umfasst achtzehn Tage, einen mehr als zuletzt. Er spricht von „neuen Setzungen“im Programm, für die es einen langen Atem brauche: „drei Jahre mindestens“. Und er beschreibt gleichsam große Bögen für die nächsten Jahre.
Mit einigen Künstlern ist er längerfristig verabredet; sie kehren regelmäßig wieder. Der junge Tänzer und Choreograf Ali Chahrour aus Beirut zum Beispiel zeigt über drei Festivals, in deutscher Erstaufführung, seine Trilogie zu Ausdrucksformen von Liebe und Leidenschaft. Das beginnt jetzt mit „Layl – Nacht“, wozu unter anderem der persische Dichter Hafez beiträgt, auf den sich Goethe in seinem vor 200 Jahren erschienenen „West-östlichen Divan“bezog.
Die Haitianerin Kettly Noël, die sich in Mali mit zeitgenössischem afrikanischen Tanz befasst, bringt in Weimar eine Choreografie zur Uraufführung: innerhalb eines vierteiligen Abends mit der Bonner CocoonDance Company, mit der Nike Wagner beim Beethovenfest zusammenarbeitete. Im nächsten Jahr tanzt Noël dann auch selbst in Weimar. Auch der deutsche Regisseur und Autor Falk Richter, der diesmal sein internationales und vielsprachiges Stück „I am Europe“zeigt, und der Bariton Matthias Goerne, der jetzt singend auf den Maler Georg Baselitz trifft, bleiben feste Größen. Hemkes Kenntnis des arabischen wie afrikanischen Theaters spiegeln seine Programme wider. So blicken wir 2019 auf Syrien, mit „Chronik einer Stadt, die wir zu kennen glaubten“von Wael Kadour und Mohamad Al Rashi oder „Unter einem hängenden Himmel“von Waël Ali. „Eine schmerzhafte Arbeit mit einem wunderbaren Solo-Schauspieler“kündigt Hemke unter anderem für Privatwohnungen an: Dort kocht Steve Karier und erzählt am Herd als einziger Überlebender eines Attentats Ende 2015 bei Mombasa: „Out in Africa“heißt das Stück des Südafrikaners Mpumelelo Paul Grootboom.
Steve Karier soll 2020 für ein Thüringen-Projekt zurückkehren. Hemkes zweites Kunstfest wird die Landesgründung vor 100 Jahren in den Blick nehmen, bevor er 2021 die Bundesgartenschau in Erfurt um eine „Bundesgeistesschau“ergänzt.
„Man sollte nicht denken, dass die Arbeit irgendwann einmal geschafft wäre“, so Hemke. Zumal sie von vielen Partnern abhängt, international, aber auch lokal. So docken BauhausUniversität, Lichthaus-Kino und Stadtarchiv mit einem Stummfilmfestival an, mit Christoph Ritter von der Musikhochschule gelangen „Bauhaus-Konzerte“ins Programm. Das ist ohnehin viel bunter und vielfältiger, als hier darstellbar. Und es beginnt mit dem „Reichstags-Reenactment“: 60 Bürger und zwölf Politiker sowie hiesige Schauspieler lassen am und im DNT die Nationalversammlung auferstehen. Der Eröffnungsabend kulminiert im FreiluftBall mit Live-Musik der Zwanziger.
Beim Kunstfest bleibt mit Rolf C. Hemke alles anders? „Eine Kontinuität ist der Zeitraum.“Rund um Goethes Geburtstag am 28. August, daran will er festhalten. Das sei der „mit Abstand plausibelste Aufhänger“. Auch, wenn in den nächsten Jahren die Thüringer Sommerferien bis in den September rücken werden.