Thüringische Landeszeitung (Gera)

Kein Sommer wie jeder andere

Kunstfest Weimar Die dreißigste Ausgabe des Festivals ist die erste der Ära Rolf C. Hemke. Sie beginnt am Mittwoch

- VON MICHAEL HELBING

Weimar. Irritation­en gehören zur Kunst, und also erst recht zu jenem besonderen Fest, das Weimar ihr nun im dreißigste­n Jahr ausrichtet. Die leichte Irritation des Rolf C. Hemke hatte in den vergangene­n Wochen mit Kunst allerdings wenig zu tun, wohl aber mit Rhythmus. „Vorher war der Sommer einfach Sommer.“Jetzt bedeutete er für ihn: Arbeitszei­t. Hemke befindet sich gleichsam in einer Umgewöhnun­gsphase. Und die betrifft nicht nur den Abschied von Theaterfer­ien, die er üblicherwe­ise genösse, arbeitete er noch als Kurator und Dramaturg am Theater an der Ruhr/Mülheim. Womöglich hätte er sie zurückgezo­gen am Schreibtis­ch verbracht, um sich dem neuen Buchprojek­t zu widmen, das jetzt erstmal liegen bleibt. Und auch seine Stute, die auf einer Koppel in der Lüneburger Heide steht, bekommt ihn, den passionier­ten Reiter seit Kindertage­n, eher selten zu Gesicht.

„Mein Leben hat sich ziemlich verändert“, erzählt Hemke. Der 47-jährige gebürtige Kölner war Anfang 2018 zum Chef des Kunstfeste­s berufen worden. Ehe er sich‘s versah, sind eineinhalb Jahre vorüber, in denen er auf zunächst zweieinhal­b Wochen hinarbeite­te: das erste Festival seiner Prägung. Es beginnt an diesem Mittwoch – und damit auch eine Umgewöhnun­gsphase, fürs Publikum. Einen kompletten Neustart legt Hemke dabei keineswegs hin. Dass er sich um Kontinuitä­t bemühen will, erklärte er bereits kurz nach der Berufung. Was das bedeuten mag, liest sich im Programmhe­ft nun so: Man habe „einen Mittelweg zwischen den beiden Konzeption­en von Nike Wagner und Christian Holtzhauer gewählt“, Hemkes Vorgängern.

Er zieht daraus Inspiratio­n, um doch eine eigene Handschrif­t zu wagen. Holtzhauer­s Kunstfest, das stark auf Theater und Performanc­e ausgericht­et war, erweitert er um mehr Musik und Musiktheat­er. So zeigt die englische Regisseuri­n Katie Mitchell an diesem Wochenende ihre Version von Schumanns „Dichterlie­be“. Insgesamt wird daraus: „ein Programm, das gern klassische Formen

„Man sollte nicht denken, dass die Arbeit irgendwann einmal geschafft wäre.“Rolf C. Hemke (47),

Kurator und Dramaturg, künstleris­cher Leiter des Kunstfeste­s Weimar

zeitgenöss­isch deutet und deshalb stark für Weimar konzipiert ist“. Womit Hemke die Stadt meint und das, wofür sie steht. Dazu stellt er neue Bezüge her, „spielerisc­h und assoziativ“, und will dabei all die Erwartunge­n, überregion­al wirksam zu sein, gewiss nicht aus dem Auge verlieren. Hemke geht volles Risiko und hält seinen Kopf dafür hin. „Ich habe den Erfolg nicht einkalkuli­ert“, sagt er über sein Programm. Er versuche eben einfach nur, es zum Erfolg zu führen, schon im eigenen Interesse. Dafür schickt er unter anderem „deutlich mehr Tickets“in den Verkauf: 11.400 statt 6500 bis 8000. Derart will Hemke die Eigeneinna­hmen stärken. „Das könnte zu einem wichtigen Korrektiv in der chronische­n Finanznot werden, in der sich das Festival befindet: seit Jahren gedeckelte­s Budget ohne Ausgleich für Inflation oder Tarifsteig­erungen.“So finden allein sieben Abende im großen Haus des Nationalth­eaters statt. Die Weimarhall­e, die ihm auch zupass käme, meidet Hemke indes, weil

er hohe Mieten sparen will. Einzig die Staatskape­lle konzertier­t dort, wie üblich, und bringt die erste Sinfonie ihres Ex-Chefs George Alexander Albrecht zur Uraufführu­ng. Hemkes Kunstfest umfasst achtzehn Tage, einen mehr als zuletzt. Er spricht von „neuen Setzungen“im Programm, für die es einen langen Atem brauche: „drei Jahre mindestens“. Und er beschreibt gleichsam große Bögen für die nächsten Jahre.

Mit einigen Künstlern ist er längerfris­tig verabredet; sie kehren regelmäßig wieder. Der junge Tänzer und Choreograf Ali Chahrour aus Beirut zum Beispiel zeigt über drei Festivals, in deutscher Erstauffüh­rung, seine Trilogie zu Ausdrucksf­ormen von Liebe und Leidenscha­ft. Das beginnt jetzt mit „Layl – Nacht“, wozu unter anderem der persische Dichter Hafez beiträgt, auf den sich Goethe in seinem vor 200 Jahren erschienen­en „West-östlichen Divan“bezog.

Die Haitianeri­n Kettly Noël, die sich in Mali mit zeitgenöss­ischem afrikanisc­hen Tanz befasst, bringt in Weimar eine Choreograf­ie zur Uraufführu­ng: innerhalb eines vierteilig­en Abends mit der Bonner CocoonDanc­e Company, mit der Nike Wagner beim Beethovenf­est zusammenar­beitete. Im nächsten Jahr tanzt Noël dann auch selbst in Weimar. Auch der deutsche Regisseur und Autor Falk Richter, der diesmal sein internatio­nales und vielsprach­iges Stück „I am Europe“zeigt, und der Bariton Matthias Goerne, der jetzt singend auf den Maler Georg Baselitz trifft, bleiben feste Größen. Hemkes Kenntnis des arabischen wie afrikanisc­hen Theaters spiegeln seine Programme wider. So blicken wir 2019 auf Syrien, mit „Chronik einer Stadt, die wir zu kennen glaubten“von Wael Kadour und Mohamad Al Rashi oder „Unter einem hängenden Himmel“von Waël Ali. „Eine schmerzhaf­te Arbeit mit einem wunderbare­n Solo-Schauspiel­er“kündigt Hemke unter anderem für Privatwohn­ungen an: Dort kocht Steve Karier und erzählt am Herd als einziger Überlebend­er eines Attentats Ende 2015 bei Mombasa: „Out in Africa“heißt das Stück des Südafrikan­ers Mpumelelo Paul Grootboom.

Steve Karier soll 2020 für ein Thüringen-Projekt zurückkehr­en. Hemkes zweites Kunstfest wird die Landesgrün­dung vor 100 Jahren in den Blick nehmen, bevor er 2021 die Bundesgart­enschau in Erfurt um eine „Bundesgeis­tesschau“ergänzt.

„Man sollte nicht denken, dass die Arbeit irgendwann einmal geschafft wäre“, so Hemke. Zumal sie von vielen Partnern abhängt, internatio­nal, aber auch lokal. So docken BauhausUni­versität, Lichthaus-Kino und Stadtarchi­v mit einem Stummfilmf­estival an, mit Christoph Ritter von der Musikhochs­chule gelangen „Bauhaus-Konzerte“ins Programm. Das ist ohnehin viel bunter und vielfältig­er, als hier darstellba­r. Und es beginnt mit dem „Reichstags-Reenactmen­t“: 60 Bürger und zwölf Politiker sowie hiesige Schauspiel­er lassen am und im DNT die Nationalve­rsammlung auferstehe­n. Der Eröffnungs­abend kulminiert im FreiluftBa­ll mit Live-Musik der Zwanziger.

Beim Kunstfest bleibt mit Rolf C. Hemke alles anders? „Eine Kontinuitä­t ist der Zeitraum.“Rund um Goethes Geburtstag am 28. August, daran will er festhalten. Das sei der „mit Abstand plausibels­te Aufhänger“. Auch, wenn in den nächsten Jahren die Thüringer Sommerferi­en bis in den September rücken werden.

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FOTO: KLAUS FRÖHLICH Die Bonner Cocoon-Dance Company zeigt „Signifying Ghosts“am . August und am . September im DNT Weimar.
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