Thüringische Landeszeitung (Gera)
Streit um Thüringer Schulcloud
Lehrerverband kritisiert Zugang als umständlich. Minister: Fast 40.000 Schüler nehmen teil
Zwischen Landesregierung und Thüringer Lehrerverband ist ein Streit um die Nutzung der Thüringer Schulcloud entbrannt. Weil im Zuge der Corona-Krise Hunderte weitere Schulen an die digitale Lernplattform angeschlossen werden, kommt es zu Verzögerungen.
TLV-Chef Rolf Busch nennt das Verfahren zu umständlich und zu bürokratisch. Die Schulen hingen auch wegen datenschutzrechtlicher Vorgaben in der Warteschleife. Vor dem Ausbruch der Pandemie arbeiteten im Freistaat lediglich 25 Pilotschulen mit der Cloud.
Bildungsminister Helmut Holter (Linke) widerspricht: „Es gibt nach meiner Kenntnis nur aus unserem Thüringer Lehrerverband die Meinung von Herrn Busch, dass es kompliziert sei.“Im zuständigen Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm) werde Buschs Auffassung ebenfalls nicht geteilt. „Datenschutz muss natürlich sein“, sagt Holter. Sein Haus sei dazu auch im Gespräch mit dem Landesdatenschutzbeauftragten.
Nach Ministeriumsangaben sind derzeit 394 Schulen im Antragsverfahren zur Schulcloud. 87 Schulen seien bereits dafür freigegeben. 39.400 Schüler nähmen daran teil. Damit sei rund die Hälfte aller Thüringer Schulen innerhalb weniger Wochen seit Schließung der Schulen in oder kurz vor der Aufnahme in die Schulcloud. Das sei „durchaus beachtlich“, meint Holters Sprecher. Die Bemühungen und Fortschritte des Thillm seien hier nicht groß genug hervorzuheben. Die Schulcloud steht grundsätzlich allen Klassenstufen und allen Schularten offen. Das Angebot werde an allen Schularten mit jeweils unterschiedlichem Grad angenommen, heißt es.
Die Anmeldung zur Schulcloud läuft dem Bildungsministerium zufolge über Server des Thillm, die zum Teil an der Technischen Universität Ilmenau betrieben werden. Von dort erfolgt eine Weiterleitung zur bundesweiten Cloud des HassoPlattner-Instituts selbst.
Fernbeschulung über Nacht. Dank der schuleigenen Homepage war es am Leinefelder Gymnasium kein kompletter Kaltstart, sagt Thomas Pfeuffer. So konnten die Kollegen schnell ihre Aufgabensätze unter die Schüler bringen. Er unterrichtet Geschichte und Physik. Kürzlich hat er seinen Schüler aus der Ferne sogar ein Experiment aufgegeben: Ein Pendel, um Fallbeschleunigung und Ortsfaktor zu ermitteln. Auf die ratlose Frage eines Schülers nach der Aufhängung, hatte er schnell eine Antwort: An die Türklinke! Auch so geht Fernunterricht. Im Ernst, bemerkt er, kamen die lang diskutierten E-Mai-Adressen für Lehrer keinen Moment zu früh. Auch wenn die Surfer schnell an ihre Grenzen kommen. Er nutzt E-Mails, um Kontakt zu halten, doch nur jeder zehnte Schüler, schätzt er, verbindet sich so mit seinem Lehrer. Mit Kollegen testet er gerade eine digitale Plattform, die eigentlich für das Business gedacht ist. Tim Reukauf von der JenaplanSchule in Suhl nutzt bereits eine private Lern-App mit Formaten wie Videos und Arbeitsblättern. Das funktioniere gut. Wer im Digitalen gut unterwegs ist, sei im Vorteil. Andere Kollegen tun sich schwerer, solche Versäumnisse rächen sich jetzt. Am Montag vor der Schulschließung liefen in seiner Schule die Kopierer heiß. 30 Lehrer, 300 Schüler und für jedes Fach Aufgabenlisten, die sich in der Aula zur Abholung stapelten. Es hat nicht lange gedauert bis allen klar war dass man damit nicht weit kommt. Inzwischen wird per EMail kommuniziert.
Im Detail, so Reukauf, sucht sich jeder Lehrer seinen eigenen Weg. Er selbst ist per E-Mail immer erreichbar, am Telefon von halb acht bis 14 Uhr. Aber wenn mal auf Zuruf schnell eine Frage geklärt werden muss, wird es umständlich. Whats -App oder Facebook wären jetzt ideal, das verbiete aber der Datenschutz. Von Kollegen in Bayern weiß er, dass dort in der Ausnahmesituation die Regelungen entspannter gesehen werden. Auch an der Gemeinschaftsschule Greußen werden die Aufgaben über die Homepage der Schule kommuniziert, Feinabstimmung und Fragen über E-Mails. Das funktioniert ganz gut, schätzt Annegret Stolle. Den Kontakt zu ihren Schülern gestaltet sie noch engmaschiger. Die Förderschullehrerin betreut neun Schüler, einmal pro Woche telefoniert sie mit den Eltern. Sie weiß, sagt sie, auch jetzt wo jeder ihrer Schüler gerade steht.
E-Mails, schulinterne Internetseiten, verschiedene Lern-Apps, manchmal auch der Briefkasten; die Einen schicken regelmäßig Aufgaben, andere Lehrer brummen den Schülern gleich einen Berg für drei Wochen auf: Da fällt es manchen Eltern schwer, den Überblick zu behalten, bemerkt Tim Reukauf. Natürlich sei das der Situation geschuldet, sagt der Vorsitzende des Lehrerverbandes Rolf Busch. Die Kommunikation laufe sehr unterschiedlich. Auch weil die Elternhäuser technisch verschieden aufgestellt sind und es Orte in Thüringen gibt, wo man am Nachmittag kaum noch eine Datei herunterladen kann, weil das Netz es nicht mehr schafft.
Dafür könne man niemanden kritisieren. Für anderes, wie er findet, schon. Stichwort Thüringer SchulCloud. Eine Plattform für digitales Lernen, die nicht nur Busch in höchsten Tönen lobt. Vor der Krise hatten in Thüringen 25 Pilotschulen damit gearbeitet, inzwischen sind mehr als doppelt so viele. Weitere 267 Schulen würden derzeit in das System eingepflegt, so das Bildungsministerium, und darin sieht Busch aktuell ein Riesenproblem: Zu umständlich, zu langwierig, zu bürokratisch. Der Datenschutz fordert zum Beispiel eine unterschriebene Einverständniserklärung der Erziehungsberechtigten, schimpft Busch. Die Schulen hängen in der Warteschleife, es sei, als versuche man ein Kamel durch ein Nadelöhr zwängen. Er fordert dringend eine Vereinfachung in dieser Ausnahmesituation ein, es sei unklar, wie es nach den Ferien weitergeht.
Für die Schulen waren diese drei Wochen ein unangekündigter Versuch ohne Laborbedingungen. Mit den Universitäten Erfurt und Jena startete die Lehrergewerkschaft GEW eine Befragung unter Lehrern. Um aus den Erfahrungen Rückschlüsse für digitales Lernen ziehen zu können. Aber es ging nicht nur um die Fallstricke der Technik. Wenn Lehrerin Annegret Stolle mit Eltern spricht, gehört dieser Satz inzwischen zum Standard: Es dürfen keine Tränen fließen. Sie warnt vor übersteigertem Ehrgeiz, den manche Eltern jetzt entwickeln. Und einige Lehrer mit ihren Anforderungen im Übrigen auch. Die Familien seien gestresst, der Alltag steht auf dem Kopf. Dies sei nicht die Zeit, Höchstleistungen abzufordern. Thomas Fleischer, der in Weimar die Gemeinschaftsschule Carl Zeiss leitet, wartet ebenfalls auf die Zuschaltung in die Schul-Cloud. Aber alle digitale Technik bleibe Notbehelf. Wie eine Theatervorstellung ohne Publikum. Gegen den Begriff „Homeschooling“verwahrt er sich. Schule, sagt er, lebt von Kommunikation und Gemeinschaft und der Professionalität der Lehrer. Vielleicht, hofft er, weiß man das jetzt mehr zu schätzen. Das wäre aber auch das Einzige, was er dieser Situation abgewinnen kann.