Thüringische Landeszeitung (Gera)
„Corona fordert uns als Menschheit heraus“
Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) über das Leben mit dem Virus - und die Zukunft des Euro
RKI sieht Hoffnungsschimmer
Laut Robert-Koch-Institut (RKI) hat sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Corona-Erkrankungen reduziert. Die sogenannte Reproduktionsrate, die aussagt, wie viele Menschen eine infizierte Person durchschnittlich ansteckt, sei durch die Kontaktverbote „schon auf eins gedrückt worden“, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler. Die Lage scheine sich „zu stabilisieren“. Ein Grund zur Entwarnung sei das aber noch nicht.
Ende der Kontaktverbote in Sicht?
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hält eine Lockerung der Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie nach den Osterferien für möglich. Denkbar sei etwa, dass Kontaktverbote weniger strikt umgesetzt werden, wenn dafür andere Maßnahmen eingehalten werden – beispielsweise das „flächendeckende Tragen von Mund-Nasen-Schutz“.
Grenzkontrollen und Hilfen
Das Corona-Krisenkabinett will am Montag über mehr Grenzkontrollen beraten. Nach Informationen des „Spiegels“soll in der Sitzung auch über eine mögliche Quarantänepflicht für alle ankommenden Flugreisenden gesprochen werden. Außerdem sollen der Wirtschaft neue Hilfen in Milliardenhöhe in Aussicht gestellt werden.
Corona nicht mehr in Flaschen
Die Brauerei in Mexiko, in der das Corona-Bier gebraut wird, stoppt vorerst die Produktion. Grund sind die von der Regierung angeordneten Beschränkungen wegen der Coronavirus-Pandemie.
Ende der Irrfahrt
Nach Zurückweisung durch mehrere Länder hat das vom Coronavirus betroffene Kreuzfahrtschiff „Zaandam“im US-Bundesstaat Florida angelegt. Das Schiff mit vier Toten und neun Coronavirus-Fällen an Bord fuhr in den Hafen der Stadt Fort Lauderdale ein.
Die Welt ordnet sich neu in der Corona-Pandemie. Olaf Scholz, als Finanzminister einer der wichtigsten Krisenmanager, trifft Entscheidungen von enormer Tragweite. Im Interview mit unserer Redaktion sagt der Sozialdemokrat, welchen Einfluss die Virologen dabei haben.
Was machen Sie an Ostern, Herr Scholz? Olaf Scholz:
Eigentlich hatte ich vor, gemeinsam mit meiner Frau in die USA zu reisen. Aber das fällt natürlich flach. Wir alle leben in schwierigen Zeiten. An niemandem geht das spurlos vorüber. Und ich mache mir Gedanken, wie es in den Familien zugeht, die jetzt viel zu Hause sein müssen, oder wie es denen geht, die alleine leben und vielleicht einsam sind – das sind schon ganz besondere Herausforderungen gerade. Wir müssen jetzt Abstand halten zueinander und zugleich aufeinander achtgeben, damit sich das Virus nicht mehr so schnell ausbreitet.
Wie lange müssen die Menschen noch durchhalten?
Seriös kann das im Augenblick niemand beantworten. Das Schicksal, das mit der Corona-Pandemie verbunden ist, fordert uns als Menschheit heraus. Da müssen wir jetzt durch.
Wie wird das Leben nach der Kontaktsperre aussehen? Lassen alle von einer App aufzeichnen, wohin sie sich bewegen?
Eines ist klar: Unser Alltag wird sich erst mal verändern und anders sein, als wir es gewohnt waren. Denn das Virus ist ja auch dann noch nicht weg, deshalb müssen wir uns weiter schützen. Und ja, es wird auch darüber diskutiert, ob es mit einer freiwilligen App möglich ist, eine ausreichende Sicherheit für die Bürger zu gewährleisten, weil sich Ansteckungswege leichter nachvollziehen lassen.
Zu der Angst um die Gesundheit tritt die Sorge um den Arbeitsplatz. Wie viele Menschen werden in diesem Jahr ihren Job verlieren?
Hoffentlich nicht so viele. Wir kämpfen gerade um die Unternehmen und um die Arbeitsplätze. Dazu haben wir das größte Hilfspaket aller Zeiten in Deutschland auf den Weg gebracht. Es ist weltweit beachtet worden, wie groß unsere Finanzhilfen sind. Wir stützen die Wirtschaft mit staatlich verbürgten Krediten, ohne dass wir das nach oben begrenzt haben. Wir haben einen Stabilisierungsfonds aufgesetzt, der die Erkenntnisse der letzten Finanzkrise nutzt, um Firmen und Betriebe abzusichern. Wir geben Zuschüsse für kleine Betriebe mit bis zu zehn Beschäftigten. Wir sichern den Solo-Selbständigen ein Einkommen, indem wir den Zugang zur Grundsicherung erleichtern. Und wir versetzen mit der Kurzarbeit viele Unternehmen in die Lage, in diesen harten Zeiten an ihren Beschäftigten festzuhalten.
Der Mittelstand fühlt sich bei den Hilfen vernachlässigt.
Wir unterstützen alle Unternehmen – mit Krediten, mit Zuschüssen und im Übrigen auch durch Steuerstundungen. Und wir arbeiten gerade an einem unbürokratischen Weg, dass Unternehmen in begrenztem Umfang ihre Verluste aus diesem Jahr schon mit dem Gewinn 2019 verrechnen können. Eine solche Regelung würde die Firmen mit zusätzlicher Liquidität versorgen und ließe sich ohne Änderung der Steuergesetze bewerkstelligen. Aber ich schaue mir darüber hinaus auch genau an, wo etwas klemmt oder Hilfe fehlt.
Ihr Versprechen lautet: Der Staat stellt bereit, was immer es braucht. Sind Sie dabei, sich zu übernehmen?
Nein, wir haben in den vergangenen Jahren gut gewirtschaftet. Das zahlt sich jetzt aus. Die Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben, ist groß. Aber wir können sie meistern.
Wie kommt Deutschland von dem gigantischen Schuldenberg wieder herunter?
Der Bundestag hat die Schuldenbremse nicht einfach ausgesetzt, sondern mit einer klaren Vorgabe verbunden: Die zusätzlich entstandenen Schulden müssen bis zum
Jahr 2043 wieder abgetragen werden. Das ist zu leisten, solange wir nicht denen folgen, die jetzt neuerliche Steuersenkungen für Spitzenverdiener in den Mittelpunkt der politischen Planung setzen. Das geht nicht!
Was bedeutet das für die Abschaffung des Soli?
Zum 1. Januar 2021 wird der Soli für die allermeisten abgeschafft, wie wir es beschlossen haben.
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken fordert eine Sonderabgabe auf Vermögen. Ist das in Ihrem Sinne?
Gerade zeigt sich, was ein faires und gerechtes Steuersystem und ein funktionstüchtiger Sozialstaat zu leisten in der Lage sind. Und auch nach der Krise bleibt ein faires Steuersystem wichtig. Jetzt haben wir Tag und Nacht damit zu tun, die akuten Auswirkungen der Pandemie zu bekämpfen. Es ist sinnvoll, dass wir uns darauf jetzt konzentrieren. Darin sind wir uns in der SPD alle einig.
Um Solidarität geht es auch auf der europäischen Ebene. Was sagen Sie Ihren Finanzministerkollegen, die eine gemeinsame Schuldenaufnahme – sogenannte CoronaBonds – fordern?
Wir müssen jetzt in Europa zusammenstehen und uns unterstützen. In dieser Zeit zeigt sich der Charakter der Europäischen Union. Ich rede derzeit viel mit all meinen Kolleginnen und Kollegen. Es geht mir um eine gute Lösung, nicht um Überschriften und Schlagworte. Mein Vorschlag ist, jetzt die vorhandenen Instrumente schnell und effektiv zu nutzen und eine gemeinsame europäische Antwort zu geben. An drei konkrete Instrumente denke ich dabei ...
... nämlich?
Als Erstes an die Europäische Investitionsbank, die mehr Kraft braucht.
Wir sollten diese Förderbank nach dem Vorbild unserer KfW in die Lage versetzen, 50 Milliarden Euro an Unternehmen zu verleihen, die das dringend benötigen. Zweiter Punkt: Als Lehre aus der Staatsschuldenkrise haben wir den Europäischen Stabilitätsmechanismus, den ESM, aufgebaut. Komplizierter Name, einfaches Prinzip: Alle Euro-Staaten zahlen in den ESM ein und erhalten in Krisenzeiten günstige Kredite von ihm. Mittlerweile sind 80 Milliarden Euro Kapital eingezahlt worden, was heißt, dass der ESM mehr als 420 Milliarden Euro an Staaten verleihen kann – zu den günstigen gemeinsamen Konditionen, ohne Risikoaufschläge. Mitgliedstaaten sollten jetzt die Möglichkeit erhalten, sich eine Summe zu leihen, die zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung entspricht. Damit können sie ihre Staatsfinanzen stabilisieren, ohne hohe Aufschläge zahlen zu müssen. Für Italien wären das etwa 39 Milliarden Euro.
„Die Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben, ist groß. Aber wir können sie meistern.“
„Diese drei Instrumente wären ein ganz starkes Signal der Solidarität in Europa.“
Und das dritte Instrument?
Wir müssen die EU-Mitglieder dabei unterstützen, mit plötzlich wachsenden Arbeitslosenzahlen umgehen zu können. Die EU-Kommission hat dazu gerade Vorschläge vorgelegt, die an meine Idee einer Arbeitslosen-Rückversicherung erinnern. Auch das hilft den Staaten, die Krise zu meistern. Wenn wir diese drei Instrumente einsetzen, wäre das ein ganz starkes Signal der Solidarität in Europa im Kampf gegen das Corona-Virus.
China und Russland bieten sich ebenfalls als Retter an. Haben Sie nicht die Sorge, dass Italien seinen Blick nach Osten wendet?
Nein, Italien ist eine sehr europäische Nation und wird es bleiben.
Sind Sie davon überzeugt, dass der Euro diese Krise übersteht?
Ja.
Und alle behalten die gemeinsame Währung?
Ja.
Was macht sie so sicher?
Aus der Finanzkrise und der Staatsschuldenkrise haben wir gelernt und die nötigen Entscheidungen getroffen, um den Euro stärker zu machen
Wer bestimmt gerade die Richtlinien der deutschen Politik?
Natürlich die Politik – in Bund, Ländern und Kommunen. Wer sonst?
Manche sagen: die Virologen.
Nein. Gerade in einer solch intensiven Situation, für die es ja keine Blaupause gibt, ist es richtig und wichtig, den Rat von Fachleuten zu hören, deren ganzes Leben und wissenschaftliches Können sich auf die Fragen konzentriert, die jetzt für uns so bedeutsam sind. Die Last der Entscheidung nimmt uns niemand ab. Wir Politikerinnen und Politiker sind dafür gewählt zu entscheiden und müssen uns dafür hinterher auch verantworten, das haben wir in unseren Amtseiden geschworen.