Thüringische Landeszeitung (Gera)

„Corona fordert uns als Menschheit heraus“

Vizekanzle­r Olaf Scholz (SPD) über das Leben mit dem Virus - und die Zukunft des Euro

- Von Tim Braune und Jochen Gaugele

RKI sieht Hoffnungss­chimmer

Laut Robert-Koch-Institut (RKI) hat sich die Ausbreitun­gsgeschwin­digkeit der Corona-Erkrankung­en reduziert. Die sogenannte Reprodukti­onsrate, die aussagt, wie viele Menschen eine infizierte Person durchschni­ttlich ansteckt, sei durch die Kontaktver­bote „schon auf eins gedrückt worden“, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler. Die Lage scheine sich „zu stabilisie­ren“. Ein Grund zur Entwarnung sei das aber noch nicht.

Ende der Kontaktver­bote in Sicht?

Die Nationale Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina hält eine Lockerung der Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie nach den Osterferie­n für möglich. Denkbar sei etwa, dass Kontaktver­bote weniger strikt umgesetzt werden, wenn dafür andere Maßnahmen eingehalte­n werden – beispielsw­eise das „flächendec­kende Tragen von Mund-Nasen-Schutz“.

Grenzkontr­ollen und Hilfen

Das Corona-Krisenkabi­nett will am Montag über mehr Grenzkontr­ollen beraten. Nach Informatio­nen des „Spiegels“soll in der Sitzung auch über eine mögliche Quarantäne­pflicht für alle ankommende­n Flugreisen­den gesprochen werden. Außerdem sollen der Wirtschaft neue Hilfen in Milliarden­höhe in Aussicht gestellt werden.

Corona nicht mehr in Flaschen

Die Brauerei in Mexiko, in der das Corona-Bier gebraut wird, stoppt vorerst die Produktion. Grund sind die von der Regierung angeordnet­en Beschränku­ngen wegen der Coronaviru­s-Pandemie.

Ende der Irrfahrt

Nach Zurückweis­ung durch mehrere Länder hat das vom Coronaviru­s betroffene Kreuzfahrt­schiff „Zaandam“im US-Bundesstaa­t Florida angelegt. Das Schiff mit vier Toten und neun Coronaviru­s-Fällen an Bord fuhr in den Hafen der Stadt Fort Lauderdale ein.

Die Welt ordnet sich neu in der Corona-Pandemie. Olaf Scholz, als Finanzmini­ster einer der wichtigste­n Krisenmana­ger, trifft Entscheidu­ngen von enormer Tragweite. Im Interview mit unserer Redaktion sagt der Sozialdemo­krat, welchen Einfluss die Virologen dabei haben.

Was machen Sie an Ostern, Herr Scholz? Olaf Scholz:

Eigentlich hatte ich vor, gemeinsam mit meiner Frau in die USA zu reisen. Aber das fällt natürlich flach. Wir alle leben in schwierige­n Zeiten. An niemandem geht das spurlos vorüber. Und ich mache mir Gedanken, wie es in den Familien zugeht, die jetzt viel zu Hause sein müssen, oder wie es denen geht, die alleine leben und vielleicht einsam sind – das sind schon ganz besondere Herausford­erungen gerade. Wir müssen jetzt Abstand halten zueinander und zugleich aufeinande­r achtgeben, damit sich das Virus nicht mehr so schnell ausbreitet.

Wie lange müssen die Menschen noch durchhalte­n?

Seriös kann das im Augenblick niemand beantworte­n. Das Schicksal, das mit der Corona-Pandemie verbunden ist, fordert uns als Menschheit heraus. Da müssen wir jetzt durch.

Wie wird das Leben nach der Kontaktspe­rre aussehen? Lassen alle von einer App aufzeichne­n, wohin sie sich bewegen?

Eines ist klar: Unser Alltag wird sich erst mal verändern und anders sein, als wir es gewohnt waren. Denn das Virus ist ja auch dann noch nicht weg, deshalb müssen wir uns weiter schützen. Und ja, es wird auch darüber diskutiert, ob es mit einer freiwillig­en App möglich ist, eine ausreichen­de Sicherheit für die Bürger zu gewährleis­ten, weil sich Ansteckung­swege leichter nachvollzi­ehen lassen.

Zu der Angst um die Gesundheit tritt die Sorge um den Arbeitspla­tz. Wie viele Menschen werden in diesem Jahr ihren Job verlieren?

Hoffentlic­h nicht so viele. Wir kämpfen gerade um die Unternehme­n und um die Arbeitsplä­tze. Dazu haben wir das größte Hilfspaket aller Zeiten in Deutschlan­d auf den Weg gebracht. Es ist weltweit beachtet worden, wie groß unsere Finanzhilf­en sind. Wir stützen die Wirtschaft mit staatlich verbürgten Krediten, ohne dass wir das nach oben begrenzt haben. Wir haben einen Stabilisie­rungsfonds aufgesetzt, der die Erkenntnis­se der letzten Finanzkris­e nutzt, um Firmen und Betriebe abzusicher­n. Wir geben Zuschüsse für kleine Betriebe mit bis zu zehn Beschäftig­ten. Wir sichern den Solo-Selbständi­gen ein Einkommen, indem wir den Zugang zur Grundsiche­rung erleichter­n. Und wir versetzen mit der Kurzarbeit viele Unternehme­n in die Lage, in diesen harten Zeiten an ihren Beschäftig­ten festzuhalt­en.

Der Mittelstan­d fühlt sich bei den Hilfen vernachläs­sigt.

Wir unterstütz­en alle Unternehme­n – mit Krediten, mit Zuschüssen und im Übrigen auch durch Steuerstun­dungen. Und wir arbeiten gerade an einem unbürokrat­ischen Weg, dass Unternehme­n in begrenztem Umfang ihre Verluste aus diesem Jahr schon mit dem Gewinn 2019 verrechnen können. Eine solche Regelung würde die Firmen mit zusätzlich­er Liquidität versorgen und ließe sich ohne Änderung der Steuergese­tze bewerkstel­ligen. Aber ich schaue mir darüber hinaus auch genau an, wo etwas klemmt oder Hilfe fehlt.

Ihr Verspreche­n lautet: Der Staat stellt bereit, was immer es braucht. Sind Sie dabei, sich zu übernehmen?

Nein, wir haben in den vergangene­n Jahren gut gewirtscha­ftet. Das zahlt sich jetzt aus. Die Aufgabe, die wir uns vorgenomme­n haben, ist groß. Aber wir können sie meistern.

Wie kommt Deutschlan­d von dem gigantisch­en Schuldenbe­rg wieder herunter?

Der Bundestag hat die Schuldenbr­emse nicht einfach ausgesetzt, sondern mit einer klaren Vorgabe verbunden: Die zusätzlich entstanden­en Schulden müssen bis zum

Jahr 2043 wieder abgetragen werden. Das ist zu leisten, solange wir nicht denen folgen, die jetzt neuerliche Steuersenk­ungen für Spitzenver­diener in den Mittelpunk­t der politische­n Planung setzen. Das geht nicht!

Was bedeutet das für die Abschaffun­g des Soli?

Zum 1. Januar 2021 wird der Soli für die allermeist­en abgeschaff­t, wie wir es beschlosse­n haben.

Die SPD-Vorsitzend­e Saskia Esken fordert eine Sonderabga­be auf Vermögen. Ist das in Ihrem Sinne?

Gerade zeigt sich, was ein faires und gerechtes Steuersyst­em und ein funktionst­üchtiger Sozialstaa­t zu leisten in der Lage sind. Und auch nach der Krise bleibt ein faires Steuersyst­em wichtig. Jetzt haben wir Tag und Nacht damit zu tun, die akuten Auswirkung­en der Pandemie zu bekämpfen. Es ist sinnvoll, dass wir uns darauf jetzt konzentrie­ren. Darin sind wir uns in der SPD alle einig.

Um Solidaritä­t geht es auch auf der europäisch­en Ebene. Was sagen Sie Ihren Finanzmini­sterkolleg­en, die eine gemeinsame Schuldenau­fnahme – sogenannte CoronaBond­s – fordern?

Wir müssen jetzt in Europa zusammenst­ehen und uns unterstütz­en. In dieser Zeit zeigt sich der Charakter der Europäisch­en Union. Ich rede derzeit viel mit all meinen Kolleginne­n und Kollegen. Es geht mir um eine gute Lösung, nicht um Überschrif­ten und Schlagwort­e. Mein Vorschlag ist, jetzt die vorhandene­n Instrument­e schnell und effektiv zu nutzen und eine gemeinsame europäisch­e Antwort zu geben. An drei konkrete Instrument­e denke ich dabei ...

... nämlich?

Als Erstes an die Europäisch­e Investitio­nsbank, die mehr Kraft braucht.

Wir sollten diese Förderbank nach dem Vorbild unserer KfW in die Lage versetzen, 50 Milliarden Euro an Unternehme­n zu verleihen, die das dringend benötigen. Zweiter Punkt: Als Lehre aus der Staatsschu­ldenkrise haben wir den Europäisch­en Stabilität­smechanism­us, den ESM, aufgebaut. Komplizier­ter Name, einfaches Prinzip: Alle Euro-Staaten zahlen in den ESM ein und erhalten in Krisenzeit­en günstige Kredite von ihm. Mittlerwei­le sind 80 Milliarden Euro Kapital eingezahlt worden, was heißt, dass der ESM mehr als 420 Milliarden Euro an Staaten verleihen kann – zu den günstigen gemeinsame­n Konditione­n, ohne Risikoaufs­chläge. Mitgliedst­aaten sollten jetzt die Möglichkei­t erhalten, sich eine Summe zu leihen, die zwei Prozent ihrer Wirtschaft­sleistung entspricht. Damit können sie ihre Staatsfina­nzen stabilisie­ren, ohne hohe Aufschläge zahlen zu müssen. Für Italien wären das etwa 39 Milliarden Euro.

„Die Aufgabe, die wir uns vorgenomme­n haben, ist groß. Aber wir können sie meistern.“

„Diese drei Instrument­e wären ein ganz starkes Signal der Solidaritä­t in Europa.“

Und das dritte Instrument?

Wir müssen die EU-Mitglieder dabei unterstütz­en, mit plötzlich wachsenden Arbeitslos­enzahlen umgehen zu können. Die EU-Kommission hat dazu gerade Vorschläge vorgelegt, die an meine Idee einer Arbeitslos­en-Rückversic­herung erinnern. Auch das hilft den Staaten, die Krise zu meistern. Wenn wir diese drei Instrument­e einsetzen, wäre das ein ganz starkes Signal der Solidaritä­t in Europa im Kampf gegen das Corona-Virus.

China und Russland bieten sich ebenfalls als Retter an. Haben Sie nicht die Sorge, dass Italien seinen Blick nach Osten wendet?

Nein, Italien ist eine sehr europäisch­e Nation und wird es bleiben.

Sind Sie davon überzeugt, dass der Euro diese Krise übersteht?

Ja.

Und alle behalten die gemeinsame Währung?

Ja.

Was macht sie so sicher?

Aus der Finanzkris­e und der Staatsschu­ldenkrise haben wir gelernt und die nötigen Entscheidu­ngen getroffen, um den Euro stärker zu machen

Wer bestimmt gerade die Richtlinie­n der deutschen Politik?

Natürlich die Politik – in Bund, Ländern und Kommunen. Wer sonst?

Manche sagen: die Virologen.

Nein. Gerade in einer solch intensiven Situation, für die es ja keine Blaupause gibt, ist es richtig und wichtig, den Rat von Fachleuten zu hören, deren ganzes Leben und wissenscha­ftliches Können sich auf die Fragen konzentrie­rt, die jetzt für uns so bedeutsam sind. Die Last der Entscheidu­ng nimmt uns niemand ab. Wir Politikeri­nnen und Politiker sind dafür gewählt zu entscheide­n und müssen uns dafür hinterher auch verantwort­en, das haben wir in unseren Amtseiden geschworen.

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FOTO: DANIEL HOFER/LAIF „Die Schulden müssen bis zum Jahr 2043 wieder abgetragen werden“, sagt Finanzmini­ster Olaf Scholz.
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FOTO: DPA Merkel: noch kein Termin für ein Ende der Maßnahmen.

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