Thüringische Landeszeitung (Gera)
Dating in Zeiten der Krise
Wie verändern Kontaktverbot und Ausgangsregeln die Partnersuche über Apps wie Tinder, Bumble und Co?
Während wir durch den Berliner Volkspark Humboldthain gehen, erzählt er enthusiastisch davon, dass er regelmäßig Wettbewerbe im Debattieren bestreitet – und gewinnt. Ich versuche derweil, sowohl zu meiner Verabredung als auch zu den anderen Spazierenden zwei Meter Distanz zu wahren, laufe deshalb im Zickzack und bin bereits nach wenigen Minuten völlig entnervt. Er fragt, wo und wie ich normalerweise neue Bekanntschaften schließe. „In Bars, auf Konzerten oder durch Freunde“, antworte ich. Mein Gegenüber, der hier Peter heißen soll, sagt, er lerne neue Menschen am liebsten bei Spieleabenden kennen. Und in diesem Moment wird uns beiden klar: Unter normalen Umständen wären wir uns vermutlich nicht begegnet.
Nun ist unser Alltag seit einigen Wochen aber alles andere als normal: Wer kann und darf, arbeitet im heimischen Wohnzimmer statt im Büro, geht höchstens noch zum Einkaufen vor die Tür und meidet den Kontakt zu Freunden, Familie und Fremden am besten komplett. Die soziale Isolation macht viele einsam – und Singles kontaktfreudiger. Zumindest virtuell.
Anzahl täglicher Nachrichten und Gesprächsdauer steigen
Weil mit dem gesellschaftlichen Leben auch die Möglichkeiten der Partnersuche drastisch eingeschränkt wurden, erleben OnlineFlirt-Apps derzeit einen regelrechten Boom. Auf der weltweit beliebtesten Plattform Tinder ist die Anzahl täglicher Nachrichten seit Beginn der Corona-Krise um rund 25 Prozent gestiegen, sagt Mitarbeiterin Natalja Neumeister. Und das europaweit. Beim Konkurrenten Bumble habe die Kommunikation immerhin um rund sechs Prozent zugenommen, sagt eine Sprecherin auf Anfrage unserer Redaktion. Im Vergleich zum Februar stieg die durchschnittliche Gesprächsdauer der Tinder-Nutzer außerdem um bis zu 30 Prozent.
Bedeutet: Weil Kneipen, Clubs und Fitnessstudios wegen der Krise geschlossen wurden, flirten Singles nicht nur vermehrt virtuell, die Situation verändert auch ihr Kommunikationsverhalten. „Ich gewinne den Eindruck, dass die Gespräche online zunehmend tiefgründiger werden. Denn Small Talk schafft keine emotionale Nähe und hilft nicht gegen Einsamkeit. Der Austausch über die eigenen Sorgen und Ängste verrät dagegen sehr viel über die Persönlichkeit“, sagt der Paartherapeut und Dating-Experte Eric Hegmann.
Befänden wir uns nicht inmitten einer Krise, ich hätte mir weder Tinder, Bumble noch Lovoo heruntergeladen. Denn ich konnte Onlinedating-Apps noch nie etwas abgewinnen. Ich möchte einen Menschen lieber beim Tanzen oder an der Theke meiner Lieblingskneipe kennenlernen – statt mich anhand eines Profilbildes und einer kurzen Selbstbeschreibung für oder gegen einen ersten Kontakt entscheiden zu müssen. Weil aber niemand weiß, wie lange der coronabedingte Ausnahmezustand noch anhalten wird, will ich dem Ganzen eine Chance geben.
Die Anbieter jedenfalls scheinen sich momentan vor allem um die Gesundheit ihrer Nutzer zu sorgen: Kaum habe ich Tinder geöffnet, gibt mir die App grundlegende HygieneTipps
und verweist obendrein auf die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Nach dem Motto: Distanziert euch, aber bleibt in Kontakt, gibt mir Bumble außerdem Tipps für virtuelle Dates. Via Videotelefonie könne ich zum Beispiel gemeinsam mit meinem Match kochen oder aber einen Film-Marathon veranstalten.
Auch ohne Kontaktverbot und Ausgangssperre: Das größte Problem beim Onlinedating bleibt die Distanz. Während Chatten vor allem dem Small Talk dient, entsteht eine intensive Verbindung häufig erst durch persönliche Treffen. Auch Telefonate können mehr Intimität schaffen, sagt Hegmann. „Am intimsten ist aber sicher die Videotelefonie. Dabei lassen Sie jemanden zu sich in die Wohnung, in Ihre Privatsphäre.“
Ich wische die mir vorgeschlagenen Frauen und Männer bald schon routiniert nach links (Nein, danke), oder aber nach rechts (Ja, bitte). Nach kurzer Zeit ergeben sich die ersten Matches mit Nutzern, die sich für mich interessieren, wie ich mich für sie. Darunter: Peter, Ende 20, der sich selbst als „freundlichen Feministen aus der Nachbarschaft“beschreibt. Unsere Unterhaltung verläuft so ungezwungen wie unaufgeregt. Und obwohl das deutschlandweite Kontaktverbot erst seit einer Woche gilt, schreibt er bald, wie sehr ihm „echte Dates“fehlen. Und damit ist er nicht allein: „Unsere aktuelle Studie zeigt ganz deutlich, dass ein Drittel der deutschen Singles sich in dieser Ausnahmesituation umso mehr nach einem Partner sehnt, um die Zeit gemeinsam durchzustehen“, sagt Markus Ernst, Psychologe beim Datingportal Parship.
Gleichzeitig frage ich mich: Versuchen diese Singles womöglich bloß, ihre Einsamkeit und Langeweile mit Tinder-Bekanntschaften zu kompensieren? Überbrücken sie den Shutdown, indem sie sich Lückenfüller suchen? „Übergangspartner gab es schon immer und wird es gewiss auch immer geben“, sagt Paartherapeut Hegmann. Und bestätigt, was ich derzeit auch in meinem Freundeskreis beobachte: Aus Angst vor dem Alleinsein binden sich Menschen aneinander, deren Wege sich vor der Krise vermutlich nicht beziehungsweise nicht erneut gekreuzt hätten. „Ich rate dazu, sich nicht aus einem Moment der Einsamkeit heraus hinreißen und wichtige Vorsichtsmaßnahmen außer Acht zu lassen“, mahnt Hegmann.
Nach einigen Tagen des digitalen Small Talks verabreden Peter und ich uns zu einem Spaziergang – ohne Umarmung zur Begrüßung, versteht sich. Unser Treffen verläuft entspannt, aber es funkt nicht. Und das ist okay. Denn ich habe in den vergangenen Tagen eine Erkenntnis gewonnen: Ich verzichte aktuell lieber auf Verabredungen. Soziale Distanzierung mag zwar einsam machen. Mit Vertrauten zu telefonieren, hilft mir allerdings mehr, als mit Fremden spazieren zu gehen. Stattdessen freue ich mich auf eine Zeit nach Corona: Auf zufällige Begegnungen im Club oder beim Konzert. Wenn Abstandhalten ein Kann und kein Muss mehr ist – und das Virus hoffentlich Geschichte.