Thüringische Landeszeitung (Gera)
Vor 30 Jahren hat Hungerstreik Erfolg
Dirk Adams gehörte zu den Hungerstreikenden in der Erfurter Andreasstraße
Vom 28. März bis zum 7. April 1990 haben in Erfurt Bürgerrechtler mit einem Hungerstreik die Stasi-Überprüfung und den staatlichen Schutz der Akten erzwungen. Unter den Dreien, die die Initiative ergriffen, war Dirk Adams, damals 21 Jahre jung. Mittlerweile ist Adams Thüringer Justizminister. Der Grünen-Politiker sagt, die Ereignisse damals, als er der Bürgerwache zum Schutz der Stasi-Akten angehörte, hätten ihn geprägt. Die Aufarbeitung im Zusammenhang mit der Staatssicherheit sei „insgesamt gut gelungen“.
Dirk Adams ist seit dem 4. Februar 1990 Teil der Bürgerwache und kann es nicht fassen: Monatelang hat das Erfurter Bürgerkomitee die Stasi-Akten in der Andreasstraße bewacht und dafür gesorgt, dass sie nicht in Flammen aufgehen oder in den Schredder gesteckt werden. Und dann ist am 18. März 1990 die erste freie, demokratische Wahl in der DDR – und in den Tagen kommt keiner und erklärt sich bereit, jetzt von Staats wegen die Akten zu schützen. Schlimmer noch: Es zeigt sich beim Blick auf die Listen der neuen Volkskammerabgeordneten, dass Stasizuträger unter ihnen sind.
Adams, damals 21 Jahre jung, und seine Mitstreiter sind sauer. Und sie wollen auf diese Situation möglichst spektakulär aufmerksam machen. Was tun? Drei kommen auf die Idee mit dem Hungerstreik. Derweil kursiert in der Stadt ein von ihnen verantworteter Aufruf: „Stasi aus der Volkskammer!“heißt es da. Und: „Die Vereinigung Deutschlands ist in Gefahr, solange noch Stasi-Strukturen greifen können.“
Bei Demo wird schnellstmögliche Überprüfung gefordert
„Ist es nicht unerträglich, wenn ehemalige Stasi-Mitarbeiter in der Volkskammer und in der Regierung je wieder über unser weiteres Leben bestimmen können?“Die Frage auf dem Flugblatt ist für Dirk Adams nur eine rhetorische: Er will zusammen mit Matthias Büchner, Klaus Vogt, W. Hase und H. John im Namen der Unabhängigen Untersuchungskommission, der Bürgerwache sowie des Bürgerkomitees Erfurt erreichen, dass es schnellstmöglich zu Überprüfungen kommt. Ein unabhängiger Untersuchungsausschuss sollte freien Zugang zu allen betreffenden Unterlagen erhalten.
Es soll aber nicht nur um die Täter bei der Stasi gehen, sondern auch um deren Opfer: „Wir fordern auch die Akteneinsicht für die Rehabilitierung aller Menschen, die durch die Staatssicherheit Leid und Unterdrückung erfahren haben.“Und mehr noch: „Wir fordern ein Rehabilitierungsgesetz!“Wer dies ebenso sieht, soll am Donnerstag, 29. März 1990 um 17.30 Uhr auf den Erfurter Fischmarkt kommen. Begleitet wurde der Aufruf von dem Hinweis: „Nach wie vor gilt: Keine Gewalt!“
Am selben Tag gehen mehrere zehntausend Menschen in Ost-Berlin, Leipzig, Erfurt und anderen Städten mit diesem Ziel auf die Straße. Sie protestieren gegen eine Generalamnestie für vormalige StasiMitarbeiter und gegen die geplante Auflösung der Bürgerkomitees. Anfang April sind deswegen vielen
Menschen in Dresden und Magdeburg auf der Straße.
Am 31. März wird gegen zwei Mitglieder der Erfurter Untersuchungsgruppe ein Ermittlungsverfahren wegen angeblichen Geheimnisverrats nach Paragraf 245 eingeleitet. Sie hatten zuvor der Staatsanwaltschaft Karteien aus der StasiZentrale übergeben, in denen sie Informationen über Erfurter Volkskammer-Abgeordnete entdeckt hatten.
Dirk Adams – 30 Jahre später neuer Justizminister in Thüringen – erinnert sich daran, dass am Freitag, 16. März, das war zwei Tage vor der Volkskammerwahl, das Bürgerkomitee Namen der Kandidaten, die zur Wahl standen, überprüft hatte. Schnell ergibt sich bei einigen StasiVerdacht. Adams sagt: „Für mich unvorstellbar! Wir fielen aus allen Wolken. Natürlich war das naiv.“Aber er hat mit einer solchen Dreistigkeit einfach nicht gerechnet. Doch es bestätigt sich, wovor Matthias Büchner bereits gewarnt hatte. Folgerichtig kommt es zur Forderung, „dass alle Volkskammerabgeordneten überprüft werden“.
Wolfgang Schäuble wollte die Akten unbesehen vernichten
Das sei die prägende Debatte in der Woche nach der Wahl gewesen, erinnert sich Adams. Und in diese Diskussion mischten sich auch Politiker aus dem Westen ein nach dem Motto: Nun muss es aber auch mal gut sein… Wolfgang Schäuble beispielsweise, wie sich Adams erinnert. Schäuble war damals Innenminister und hatte – da war er sich mit Helmut Kohl (beide CDU) in der damaligen Regierung 1990 einig – sogar dafür plädiert, die StasiUnterlagen im Zuge der Wiedervereinigung unbesehen zu vernichten. Schäuble sagt zu diesem Thema im Rückblick: „Wir haben dann aber den Wunsch der frei gewählten Volkskammer nach Aufarbeitung respektiert und eine entsprechende Regelung in den Einigungsvertrag aufgenommen.“
Doch vor dem, was Schäuble den Wunsch der Volkskammer nennt, kam der Druck aus der Bürgerschaft – und hier vor allem auch aus Erfurt. Klaus Vogt, Sven Braune und Dirk Adams entschließen sich, ein Zeichen zu setzen – mit einem Hungerstreik, um die Überprüfung durchzusetzen. Büchner habe gesagt: „Und was macht ihr, wenn die das nicht machen?“Doch die Drei wollen sich darüber keine Gedanken machen. Am Mittwoch, 28. März, wird noch ordentlich gefrühstückt, dann geht es los. Motto: Große Politik ohne große Ohren. Volkskammermitglieder jetzt überprüfen. Kein Mittagessen, kein Abendessen, nur Getränke… Von Anfang an findet dies bundesweit große Aufmerksamkeit. In den nächsten Tagen kommen nicht nur Journalisten, sondern auch zwei junge neu gewählte Abgeordnete der SPD und Bürgervertreter aus Plauen, die den Erfurtern ihre Solidarität und Unterstützung versichern. Aus den Drei, die mit dem Hungerstreik beginnen, werden im Laufe der nächsten Tage 16 Personen. „In dem Raum, in dem einst der Generalmajor Josef Schwarz, der Leiter Staatssicherheit in Erfurt, sein Büro hatte“, campieren sie bei lauwarmem Tee. Die Forderung lautet jetzt: „Wir brauchen von der Regierung in Berlin ein Schreiben, das dem Bürgerkomitee erlaubt, wieder an die Kartei zu gehen und so eine Überprüfung durchzuführen.“Und diese
Forderung erfüllt sich und zwar zu einer Zeit, als in Ost-Berlin gerade über eine Große Koalition zwischen dem Wahlgewinner CDU und der zweitplatzierten SPD verhandelt wird: Am Samstag, 7. April, „nach zehn Tagen und einigen Stunden der Ungewissheiten, kam ein Bote aus Berlin im Lada, es war ein Beauftragter der noch im Amt befindlichen Modrow-Regierung, der uns dieses Schreiben brachte.“Abends nimmt Adams erstmals wieder feste Nahrung zu sich und lässt sich in den folgenden Ostertagen von seiner Großmutter „aufpäppeln“, erzählt er lachend.
Mit 22 Jahren ein großes Projekt erfolgreich zu Ende geführt
Im Sommer 1990 gilt das Motto: „Unsere Akten bleiben hier“. Deswegen gibt es an vielen Orten, so auch in Gotha, einen Hungerstreik. Am 24. August 1990 – also am Tag nach dem Ja zum Einheitsvertrag – verabschiedet die frei gewählte Volkskammer ein Gesetz, das erstmals die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums regelt. Ein Sonderausschuss hat sich seit einem halben Jahr mit der Überprüfung der Abgeordneten befasst. Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) weigert sich allerdings in der letzten Volkskammersitzung am 28. September 1990, die Namen öffentlich zu machen, wie das Konrad Weiß von den Bündnis-Grünen verlangt. Grund für sie ist, dass nicht in jedem Fall gesichert gewesen sei, ob es sich um Täter oder Opfer handelt. Vize-Präsident Wolfgang Ullmann (Bündnis-Grüne) übernimmt dann diese Aufgabe.
Für Dirk Adams ist im Rückblick klar: Der Erfurter Hungerstreik kurz vor Ostern 1990 ist „die Geburtsstunde der Stasi-Überprüfung. Und ich bin stolz darauf, dass ich schon in jungen Jahren so ein wichtiges politisches Projekt mitangestoßen habe.“
Adams von den Grünen, der seit knapp einem Monat als Minister im Amt ist, sagt, die Erfurter Ereignisse hätten ihn „geprägt“. Er wisse seither, was es bedeutet, „mit einer politischen Forderung, die mit Vehemenz vorgetragen wird, in die Verantwortung zu kommen“. Eine politische Forderung sei „schnell formuliert, aber man muss sich auch darüber klar zu sein: Wann ist sie praktisch erfüllt?!“Und: Im Rechtsstaat basiert Handeln auf Gesetzen. Für den Politiker Adams heute bedeutet das:. „Wichtig ist, dass wir klare Regeln machen, die von allen akzeptiert werden. Und das ist uns bei der Aufarbeitung der Staatssicherheit insgesamt ganz gut gelungen“, stellt Adams fest.