Thüringische Landeszeitung (Gera)
Im Gral der Klassik
Die Dichterzimmer in Weimars Residenzschloss sind nun bis aufs I-Tüpfelchen restauriert
Nach jahrzehntelanger Restaurierung sollten die Dichterzimmer im Weimarer Residenzschloss zu Ostern wieder für Publikum zugänglich sein; nun bittet die Klassik-Stiftung ob unverschuldeter Umstände um etwas Geduld. Dennoch durften wir schon einen exklusiven Blick wagen: in die einzigartigen Memorialräume, deren Einrichtung in den 1830/40er-Jahren den Startpunkt der Klassik-Verehrung, Klassik-Verklärung – also auch des Weimarer kulturtouristischen Geschäftsmodelles – markiert.
Erste Ideen, eine solche Weihestätte zu errichten, kursierten bald nach Goethes Tod 1832. Dass aber Großherzogin Maria Pawlowna die Initiative ergriff, hatte private wie politische Motive: Aus familiären Gründen klaffte ein Leerstand in der Schloss-Immobilie – just nebenan ihrer eigenen Gemächer. Und gerade jetzt fühlten die Deutschen sich in ihrer ungestillten Sehnsucht nach Reichseinigung als „Kulturnation“, zu deren heimlicher Hauptstadt das unbedeutende Ilm-Athen sich aufzuschwingen anschickte.
Die Dichterzimmer untermauerten diesen Anspruch, die Grablege
Schillers und Goethes in der Fürstengruft dokumentierte ihren Rang, und Kapellmeister Franz Liszt komponierte zu den wie Staatsakte begangenen Zentenarfeiern 1849 und 1859, den 100. Geburtstagen beider. Klassik wurde da Kult, ein früher Kulturtourismus entspann sich.
Als Dichterfürsten nobilitiert
Doch stellen die Dichterzimmer – wie kein Walhalla oder Panthéon – Intimität her: Zum einen wurden Goethe, Schiller, Wieland und Herder posthum in die großherzogliche Familie symbolisch inkorporiert; zum anderen war es für die ausgewählten Besucher so, als dürften sie ihnen in ihrem ideellen Zuhause – bei ihren Werken – nahetreten.
Gert-Dieter Ulferts, bei der Klassik-Stiftung als Fachbereichsleiter für Hof- und Residenzkultur zuständig, nennt Großherzog Carl Alexanders Ankauf zweier Sarkophag-Reliefs mit Iphigenie-Darstellungen und die Berufung Carl Ludwig von Schorns zu des Kunscht-Meyers Nachfolger als wichtige Impulse. Schorn schienen die ersten Entwürfe Carl Friedrich Schinkels wohl zu altbacken. Man wollte es moderner, gefühlsintensiver – romantischer. So kriegte der junge Bernhard Neher
den Auftrag für Schillerzimmer (1837) und Goethegalerie (1839); der kaum ältere Friedrich Preller durfte sich des Wieland- (1838) und Herderzimmers (1842) annehmen.
Endlich der Ortstermin auf der Schloss-Baustelle. Restauratorin Birgit Busch wartet unterm Löwenportal – und hinauf geht’s die knarzige Stiege durchs noch unsanierte Treppenhaus, bis das Achteckzimmer als Amuse-Gueule Lust aufs Erlesenste schürt: Der Blick weidet genüsslich auf vier Gemälden der wettinischen Sommerfrische-Schlösschen – Tiefurt, Dornburg, Wilhelmsthal und Belvedere. „Auch ich in Arkadien“, denkt man.
Ein Gesamtkunstwerk
Dann weiten sich die Pupillen zur Seh-Sucht. Im Schillerzimmer dominiert Nehers erfrischend farbiges Bildprogramm – lauter Fresken auf großformatigen Putzplatten: Szenen aus den Dramen, hier „Fiesco“, dort „Karlos“, der „Tell“und natürlich dürfen „Die Räuber“nicht fehlen. Kundige Theatergänger entschlüsseln den Klassik-Comicstrip mit leichter Mühe. Der Raum: ein Gesamtkunstwerk.
Unweigerlich stellt ein erhabenerhebendes Gefühl sich ein, ja: das hat etwas Sakrales. Das zentrale Podest an der Wand ist noch leer, die Restaurierung der Schillerbüste, wie Birgit Busch flüstert, bald fertig. Nebenan, gleichauf im Prunk, jedoch wesentlich größer, wartet die Goethe-Galerie mit zwei wuchtigen Szenen aus beiden Teilen des „Faust“auf. Andächtiges Staunen. Die „Iphigenie“-Reliefs prangen über dem Ein- und dem Ausgang – weiter geht’s, durch skulptural verzierte Türflügel, rüber zu Wieland.
Im Vergleich zu den beiden anderen sind er und Herder in Nebengelassen untergekommen; der Grundriss war halt ursprünglich fürs Private gedacht. Doch haben die Altvorderen auch hier nicht gespart. All die Sinnlichkeit, die mit leuchtenden Farben wie ehedem wuchert, lässt sich kaum beschreiben; man muss sie aus eigenem Atem erleben, ja inhalieren. Birgit Busch berichtet emsig, wie man dank privater Mäzene und Stiftungen seit 2002 Zug um Zug die Zimmer für Millionen saniert und restauriert habe. Aber ein Begeisterter hört sie wie in Trance.
Man schwebt, Weimars KlassikerGral zeitigt unübertreffliche Wirkung: Der Zauber wirkt heute wie damals. Und bald offenbart er sich jedem Besucher, der ihn erheischt.