Thüringische Landeszeitung (Gera)

„Über das Kriegsende in Weimar muss neu nachgedach­t werden“

Vor 75 Jahren Studie zu Thüringen zwischen Befreiung und Kapitulati­on im April 1945 – Teil 1

- Von Volker Wahl

75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ruft das kollektive historisch­e Erinnern an diese schwere Zeit noch immer das Gedenken an die zahllosen Opfer und die Abscheu gegenüber den NS-Tätern hervor. Am Ende dieses großen Krieges stand die Weltordnun­g vor neuen Herausford­erungen. Ein ermutigend­es Zeichen für die Zukunft wurde am 25. Juni 1945 gesetzt, als 50 Staaten in San Francisco die Charta der Vereinten Nationen beschlosse­n, um eine neue Ordnung im Zusammenle­ben der Völker und Staaten zu bestimmen.

Das vorausgehe­nde historisch­e Geschehen bei Kriegsende 1945, der Zusammenbr­uch des NS-Regimes und die Kapitulati­on der deutschen Wehrmacht, ist inzwischen gut erforscht. Das gilt auch für Thüringen im Ganzen und auch besonders für den Weimarer Umkreis, doch historisch­e Erkenntnis ist nichts Statisches. Und so sollen in dieser Studie die Ereignisse bei der Eroberung und Besetzung Thüringens im April 1945 und besonders in der damaligen thüringisc­hen Landeshaup­tstadt erneut in den Blick genommen werden, um zu neuen Einsichten zu gelangen.

Die amerikanis­che Besetzung ist Teil der Geschichte in Thüringen

Dabei ist auch daran zu erinnern, dass bis zu den politische­n Veränderun­gen in Deutschlan­d 1989/90 infolge der fortdauern­den Bindung an die alliierte Siegermach­t der Sowjetunio­n hier das Geschichts­verständni­s für das Geschehen bei Kriegsende 1945 in Thüringen erschwert war und das damalige Lehrbuchwi­ssen hauptsächl­ich nur die Befreiungs­tat der „Roten Armee“kannte.

Thüringen – das 1920 gegründete Land und der zu Preußen gehörende Regierungs­bezirk Erfurt – wurde im April 1945 innerhalb von 16 Tagen von amerikanis­chen Militärein­heiten, die der Dritten Armee von General George S. Patton angehörten, erobert und besetzt. Am 1. April überschrit­ten seine Kampftrupp­en westlich von Eisenach bei Creuzburg die hessisch-thüringisc­he Landesgren­ze. Am 16. April wurde von ihnen in Ostthüring­en der noch nicht eingenomme­ne Landkreis Greiz erreicht, die amerikanis­che Besetzung Thüringens war damit vollzogen. Da aber dieses Staatsgebi­et nach den alliierten Abmachunge­n der deutschen Kriegsgegn­er zur künftigen Sowjetisch­en Besatzungs­zone gehören sollte, stand Thüringen nicht einmal 100 Tage unter amerikanis­cher Besatzungs­gewalt,

bevor hier auf der Grundlage der Vereinbaru­ngen der Siegermäch­te Anfang Juli 1945 die „Rote Armee“einrückte. Prägend ist dadurch die amerikanis­che Besatzungs­zeit für die Nachkriegs­geschichte unseres Landes insgesamt nicht geworden, zumal das historisch­e Verständni­s dafür schon bald kanalisier­t und durch das ideologisc­h verbrämte Geschichts­bild in der DDR überlagert wurde. Abgesehen davon, dass in der Bevölkerun­g gern auch die unzutreffe­nde Auffassung kolportier­t wurde, Thüringen sei von den Amerikaner­n für Westberlin ausgetausc­ht worden.

Weimar war damals die NS-Machtzentr­ale

Erst ein halbes Jahrhunder­t nach Kriegsende rückte nach 1990 das weitgehend übersehene Zwischensp­iel, als über Thüringen das „Sternenban­ner“wehte, in den Mittelpunk­t von Erinnerung und Nachforsch­ung. Seitdem sind in vielen lokalen und auch regionalen Studien die militärisc­hen Ereignisse von Abwehrkamp­f, Eroberung und Besetzung thüringisc­her Orte und des Landes erforscht und publiziert worden. Das trifft auch auf die damalige Landeshaup­tstadt, die NSMachtzen­trale in Thüringen, zu.

Über das Kriegsende in Weimar 1945 muss heute neu nachgedach­t werden. Es genügt nicht, das historisch­e Geschehen nur unter dem Begriff der Befreiung vom NS-Regime zu subsumiere­n. Wer waren damals die tatsächlic­hen Gegner der Amerikaner, als diese zu uns kamen und Thüringen eroberten? Doch nicht die Stadt Weimar und das Konzentrat­ionslager Buchenwald auf dem Ettersberg! Unmittelba­rer Kriegsgegn­er der seit 1. April 1945 in Thüringen eingerückt­en Dritten US-Armee von General Patton waren in der thüringisc­hen Landeshaup­tstadt die hier garnisonie­rte deutsche Wehrmacht und in Buchenwald die dort stationier­te SS-Besatzung des Konzentrat­ionslagers.

Wer also waren am 11. und 12. April 1945 in Weimar die Sieger, wer die Besiegten? Die historisch­e Betrachtun­g und Bewertung der tatsächlic­hen Geschehnis­se in diesen Tagen gipfelt in der Feststellu­ng, dass dem Eingreifen der Amerikaner in das Kriegsgesc­hehen in und um Weimar bereits die Kapitulati­on ihrer Gegner vorausgega­ngen war, was bisher lediglich mit den Begriffen der „Flucht“oder des „Abrückens“vom Schauplatz des Geschehens bezeichnet wurde, ohne darin den „Wendepunkt“der historisch­en Ausgangssi­tuation zu erkennen. Denn Kampfhandl­ungen hat es am 11. und 12. April 1945 hier im eigentlich­en Sinne nicht gegeben. Dass die Situation angesichts der vorhandene­n Ungewisshe­it trotzdem bedrohlich war und auf des Messers Schneide gestanden hat, soll allerdings nicht bestritten werden.

Lesen Sie am Mittwoch Teil 2 der siebenteil­igen Serie: Die historisch­en Ereignisse im April 1945

 ?? ARCHIV-FOTO: SASCHA FROMM ?? Thüringen, Weimar, Buchenwald und die Befreier: Viktor Savytskyi (Ukraine) und US-Army-Veteran Clarence H. Brockman aus Pennsylvan­ia bei der Gedenkfeie­r vor zehn Jahren Arm in Arm. In diesem Jahr musste die Zusammenku­nft mit den hochbetagt­en Überlebend­en abgesagt werden.
ARCHIV-FOTO: SASCHA FROMM Thüringen, Weimar, Buchenwald und die Befreier: Viktor Savytskyi (Ukraine) und US-Army-Veteran Clarence H. Brockman aus Pennsylvan­ia bei der Gedenkfeie­r vor zehn Jahren Arm in Arm. In diesem Jahr musste die Zusammenku­nft mit den hochbetagt­en Überlebend­en abgesagt werden.
 ?? FOTO: VOLKER WAHL ?? Die Kapitulati­onsaufford­erung der Amerikaner vom 11. April 1945 an die Wehrmacht und SS-Soldaten in Weimar.
FOTO: VOLKER WAHL Die Kapitulati­onsaufford­erung der Amerikaner vom 11. April 1945 an die Wehrmacht und SS-Soldaten in Weimar.

Newspapers in German

Newspapers from Germany