Thüringische Landeszeitung (Gera)
Die gefährliche Unvernunft
Familienfeiern, Partys und Massenevents: Nach Pfingsten schauen Experten besorgt auf die Infektionszahlen
Gedränge am Strand von Sylt, überfüllte Ostseebäder und eine politische Massenparty mit Hunderten von Schlauchbooten auf dem Berliner Landwehrkanal: Bilder des Pfingstwochenendes, die den Behörden Schweißperlen auf die Stirn treiben. Die Gefahr ist real, dass in wenigen Tagen die Quittung für die sonnigen Feiertage in Form von neuen Corona-Ausbrüchen kommt. Bereits in den letzten Tagen war es immer wieder zu regionalen Infektionsfällen gekommen – zuletzt in Göttingen, wo sich nach mehreren Familienfeiern Dutzende Menschen angesteckt hatten.
Bundesweit ist die Zahl der Neuinfektionen aktuell zwar weiter niedrig – doch der R-Wert, der anzeigt, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, überschritt zeitweise wieder die kritische Marke von 1,0. Wie gefährlich wird die wachsende Unvernunft? Treibt die sommerliche Feierlaune die Viruskurve wieder in die Höhe?
Wie ist die aktuelle Lage?
Einerseits gibt es seit Wochen einen sinkenden Trend bei den Neuinfektionen. Zuletzt meldeten die Gesundheitsämter dem Robert-KochInstitut (RKI) 213 Corona-Infektionen binnen einem Tag, damit haben sich seit Beginn der Corona-Krise 182.028 Menschen in Deutschland nachweislich mit Sars-CoV-2 angesteckt (Datenstand 2. Juni, 0 Uhr). Die Zahlen sind zu Wochenbeginn wegen Meldeverzögerungen jedoch oft niedriger. Die Reproduktionszahl, kurz R-Wert, lag am Montag dagegen bei 1,20. Zwar schätzte das RKI sie für ganz Deutschland am Dienstag wieder deutlich niedriger ein: 0,89. Aber in Berlin kletterte der aktuelle R-Wert auf 1,95. Das bedeutet, dass 100 Infizierte in der Bundeshauptstadt derzeit 195 weitere Menschen anstecken.
Wichtig ist: Die aktuellen Zahlen beschreiben nicht das gegenwärtige Infektionsgeschehen, sondern bilden ab, was vor einigen Tagen passiert ist. Ob und wie sich das Pfingstwochenende auswirkt, wird deswegen ebenfalls erst mit zeitlicher Verzögerung sichtbar. Genauso beim RWert: Er bildet jeweils das Infektionsgeschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab.
Wann ist der R-Wert alarmierend?
Noch vor wenigen Wochen hätte ein Wert über eins große Sorge und in der Folge auch politische Entscheidungen ausgelöst. Denn R größer eins bedeutet, dass sich das Virus weiter ausbreitet. Doch die Zahl der Infizierten in Deutschland ist derzeit so niedrig, dass ein hoher RWert nicht automatisch einer Katastrophe gleichkommt, betont Professor Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik an der Universität Leipzig. „Wenn das Infektionsgeschehen niedrig ist, reagiert das R auf lokale Ereignisse wie etwa in Göttingen sehr leicht“, erklärt Scholz. Die sogenannten Superspreading-Events, bei denen sich lokal begrenzt viele Menschen in kurzer Zeit anstecken, können also R in die Höhe schnellen lassen, ohne dass das ganze Land vor einer zweiten Infektionswelle steht.
Wem noch die Warnung von Kanzlerin Angela Merkel Sorge bereitet, nach der das Gesundheitssystem bei einem R-Wert von 1,2 bereits drei Monate später seine Belastungsgrenze erreicht haben könnte, muss auch die Zahl der Infizierten einbeziehen. Im April, als Merkel warnte, waren fast 2500 Neuinfektionen gemeldet worden. „Derzeit muss niemand fürchten, dass wir an die Kapazitätsgrenze der Intensivbetten stoßen“, bestätigt Scholz.
Hinzu kommt, dass das RKI neuerdings einen weiteren R-Wert angibt, der einen längeren Zeitraum umfasst und Schwankungen glättet.
Er ist genauer. Dieser Wert lag zuletzt bei 0,87 – also unter 1. Der Berliner Virologe Christian Drosten riet am Dienstag dazu, den R-Wert nicht überzubewerten: Man müsse im Moment weniger auf den R-Wert schauen als auf die Zahl der Neuinfektionen.
Welche Rolle spielen Superspreader?
In Frankfurt infizierten sich nach einem Gottesdienst mehr als 200 Menschen, in Ostfriesland nach einem Restaurantbesuch mehr als 30 – Hunderte mussten in Quarantäne. Die Superspreading-Events häufen sich. „Also solche Ereignisse, die die Ausbreitung der Pandemie massiv beschleunigen“, sagt Friedemann Weber, Professor für Virologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. SuperspreadingEvents sind zeitlich und räumlich begrenzt, die daraus resultierenden Neuinfektionen lassen sich meist auf eine oder wenige Personen zurückführen.
Als Superspreader wiederum werden Menschen bezeichnet, die infiziert sind und besonders viele Personen anstecken. „Dass sie viele infizieren, könnte daran liegen, dass betreffende Personen überdurchschnittlich infektiös oder sozial aktiv sind. Oder aber unterdurchschnittlich vorsichtig“, so Weber. Stress oder Begleiterkrankungen können das Abwehrsystem unterdrücken, wodurch die Viruslast steigt. Grundsätzlich kann jeder Infizierte, der mit vielen Menschen Kontakt hat, zum Superspreader werden. Da manch Infizierter keine oder kaum Symptome hat, merkt dieser womöglich nicht einmal, dass er ansteckend ist. Und: Nicht immer liegt es am Infizierten selbst. Auch die Umstände sind entscheidend. Laut Weber spielt es beispielsweise eine große Rolle, ob Zusammenkünfte mehrerer Menschen draußen oder drinnen stattfinden.
Warum ist die zweite Welle bislang ausgeblieben?
Experten führen das vor allem auf zwei Faktoren zurück: die Maskenpflicht in vielen Bereichen des öffentlichen Raums – und das gute Wetter, dass dazu führt, dass viele Kontakte bei guten Lüftungsbedingungen stattfinden – durch offene Fenster, durch Begegnungen im Freien. Je größer der Luftaustausch ist, desto schneller werden hochinfektiöse Aerosole unschädlich.
„Nach den Lockerungen erwarten wir alle intuitiv, dass die Fälle wieder zunehmen müssten“, sagte Drosten am Dienstag in seinem Podcast. Aber: Es gebe inzwischen eben zahlreiche Effekte, die dagegen spielten. Neben der Maskenroutine sei das auch das Wissen darüber, dass das Coronavirus vor allem dann gut übertragen werde, wenn größere Menschenmengen in Innenräumen versammelt seien.
„Nach den Lockerungen erwarten wir alle intuitiv, dass die Fälle wieder zunehmen müssten.“Christian Drosten, Virologe