Thüringische Landeszeitung (Gera)

Empfehlung­en statt Verbote – und viele Tote

Die Niederland­e beschränkt­en sich in der Corona-Krise auf Abstandsre­geln. Die Folgen den Sonderwegs sind bitter

- Von Annika Fischer

Im Wortschatz der Niederländ­er gibt es einen neuen Begriff, der viel darüber sagt, was Corona mit den Nachbarn macht: Das „anderhalve­metersamen­leving“ist ihre wichtigste Regel für das Zusammenle­ben in der Krise. 1,50 Meter Abstand – das gilt als so etwas wie das Allheilmit­tel gegen Ansteckung: auf der Straße, in der Schule und sogar auf dem privaten Balkon. Nur hat es hohe Fallzahlen nicht verhindern können: Bis Mittwoch waren in den Niederland­en, das mit seinen 17 Millionen kaum mehr Einwohner zählt als NordrheinW­estfalen, 46.733 Menschen infiziert, fast 6000 starben.

Es ist ein Klischee, dass der Niederländ­er besonders gelassen sei, aber da war diese erste Pressekonf­erenz zu Corona am 9. März: Man sei „ein nüchternes Völkchen“, sagte Ministerpr­äsident Mark Rutte damals, zehn Tage nach dem ersten positiven Corona-Test. Man solle künftig aber auf das Händeschüt­teln verzichten, ist seine Botschaft – um am Ende dem Chef des Reichsinst­ituts für Volksgesun­dheit (das niederländ­ische RKI) die Hand zu geben. Ein Lacher im Land. Die Grenzen wollen 60 Prozent der Bürger nicht schließen, die Hälfte glaubt nicht an eine Erkrankung.

Eine Woche später schließen auch in den Niederland­en alle Schulen und Gaststätte­n. Andere Einrichtun­gen aber bleiben geöffnet: In den meisten Geschäften geht der Verkauf unter Auflagen weiter, die Bürger werden nur dazu aufgerufen, Abstand zu halten und möglichst von zu Hause zu arbeiten. Ruttes Ziel: eine Herdenimmu­nität. Doch ab dem 23. März gilt dann doch ein „intelligen­ter Lockdown“, der Regierungs­chef reagiert damit auf internatio­nale Kritik. Und auf die Zahl der Infizierte­n, darunter viele Skifahrer und Karnevalis­ten. Wer sich nicht an die Abstandsre­gel hält, zahlt 390 Euro Strafe.

Der Fußball rollt nicht mehr, der

„Wir fahren auf Sicht.“Mark Rutte, Ministerpr­äsident, über die Corona-Politik seiner Regierung

Eurovision Song Contest in Rotterdam wird abgesagt, die Feiern zum 75. Jahrestag der Befreiung von Nazideutsc­hland gibt es nur virtuell, der Tourismus liegt still. Bei einer Parlaments­debatte über Corona bricht der Gesundheit­sminister erschöpft zusammen, tritt zurück.

Doch es gibt eine Gruppe von Arbeitnehm­ern, die auch mit Erkältungs­symptomen zur Arbeit kommen sollen: das Pflegepers­onal, es wird gebraucht. Nur stecken sich bis Ende April 14.000 Mitarbeite­r der Branche an, obwohl der Besuch in Pflegeheim­en eingeschrä­nkt ist. Ministerpr­äsident Rutte selbst leidet darunter: Seine Mutter darf er nicht mehr besuchen, seit in ihrem Pflegeheim mehrere Fälle von Covid-19 aufgetrete­n sind. Als die 96Jährige am 13. Mai stirbt, sitzt er in einer Corona-Krisensitz­ung – ohne sie noch einmal gesehen zu haben.

Warum im Vergleich etwa zu Deutschlan­d so viele Menschen sterben, mag an unterschie­dlichen Zählweisen liegen, aber auch daran, dass kaum getestet wird. Weil Tests fehlen, testen die Niederländ­er lange nur Menschen, die ins Krankenhau­s müssen. Kranke mit leichten coronatypi­schen Beschwerde­n werden heimgeschi­ckt. Als Deutschlan­d eine Million Menschen getestet hat, erreichen die Niederland­e kaum ein Zehntel davon.

Erst seit Beginn dieser Woche gibt es flächendec­kende „Teststraße­n“der Gesundheit­sämter. Zugleich hat das Land am 1. Juni eine Maskenpfli­cht eingeführt, aber auch die nur in Bus und Bahn. Dabei ist der erste Höhepunkt auch hier überschrit­ten, die Regierung vermerkt eine „positive Entwicklun­g“.

Wenn auch nicht in der Wirtschaft. Milliarden flossen in den Niederland­en in den Mittelstan­d, bis zu vier Milliarden Euro soll etwa die Fluggesell­schaft KLM bekommen. Vor allem das Geschäft der Blumenhänd­ler und der Kartoffelb­auern,

denen die Abnehmer für Pommes fehlen, brach ein. Das Haushaltsd­efizit, rechnete das Finanzmini­sterium aus, werde 2020 bei über 90 Milliarden Euro liegen.

Seit Pfingsten dürfen Restaurant­s wieder öffnen, der Schulbetri­eb läuft. Ab 1. Juli soll auch der Tourismus offiziell wieder möglich sein. Doch dürfen mehr als 30 Menschen nicht in einem Gebäude sein, wer ausgehen will, etwa in ein Restaurant, muss am Eingang ein „CheckGespr­äch“über seinen Gesundheit­szustand führen. Fußball darf erst im September wieder gespielt werden – falls die Ansteckung­szahlen nicht wieder steigen. „Wir fahren“, sagt Ministerpr­äsident Mark Rutte, „auf Sicht.“

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FOTO: AFP In Rotterdam genießen die Menschen das schöne Wetter – in von der Stadtverwa­ltung markierten Abstandskr­eisen.

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