Thüringische Landeszeitung (Gera)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Das, was man ein Tagebuch nennen konnte, führte Stadler erst seit dem Tod des Papstes. Zunächst nur als stichpunkt­artige Chronik, um sie auch später in andere, außerrömis­che Tagesereig­nisse einordnen zu können, nach dem Tod der Mutter jedoch auch, um sich seiner eigenen Gefühle zu vergewisse­rn. Seine Mutter war alt, aber er hatte einige Jahre das ungute Gefühl, sie in der schwersten Zeit ihres Lebens alleingela­ssen zu haben. Doch auch bei einem solchen Schmerz galt am Ende, dass die Zeit alle Wunden heilte. Heute hatte er seinen Frieden gemacht, mit seiner Mutter ebenso wie mit sich selbst.

Hätte er von jeher ein richtiges Tagebuch geführt, eines, das diesen Namen auch verdiente, dann würde ihm das Schreiben seiner Memoiren freilich leichter von der Hand gehen. Noch immer sortierte er dafür Entwürfe und Gliederung­en, überlegte, was er überhaupt seinen Lesern mitteilen sollte. Und wenn ihm nichts einfallen wollte, wenn er in seinen konzeption­ellen Überlegung­en auf der Stelle trat, dann schrieb er eben Tagebuch. Das allerdings nicht auf weiße Blätter, sondern in große Ringbücher. Da war die Gefahr geringer, einzelne Blätter zu verlegen. Auch die Verlockung, ganze Seiten nach nochmalige­r Prüfung wegzuwerfe­n, war kleiner.

Seinem Tagebuch vertraute er auch die Gedanken um Carlotta an. Doch meist waren es nur Fragen, die er notierte. Bahnte sich hier eine Romanze an? War er als der Ältere und Erfahrener­e nicht verpflicht­et, der Entwicklun­g Einhalt zu gebieten, bevor es Tränen gab? Gebrochene Herzen gar?

Als er gerade wieder über solchen Fragen brütete, klopfte es leise an die Tür seines Hotelzimme­rs. Das war in den ersten vier Wochen seines Aufenthalt­es gar nicht geschehen. Stadler blickte zur Tür. Wer mochte das sein? Hatte er etwas im Restaurant liegengela­ssen, dann hätte es ihm der Portier übergeben.

„Ja“, rief er leise und klappte sein Tagebuch zu.

Die Tür öffnete sich einen Spalt und Carlotta lugte herein, ganz vorsichtig, nur mit dem Kopf. „Darf ich dich stören?“, fragte sie. „Komm herein“, sagte Stadler. Sie huschte ins Zimmer und schloss die Tür. Er schob ein leeres Blatt Papier über das Ringbuch. Sie müsste nicht sehen, woran er gerade arbeitete. Aber sie interessie­rte sich gar nicht dafür. Sie legte die Arme auf den Rücken, senkte den Kopf und drehte sich in der Hüfte wie ein kokettes Schulmädch­en. Ob sie um ihre Wirkung wusste?

„Lorenzo, du“, sie schien zu zögern. „Ich habe heute früher Schluss und ich würde dich gerne einladen.“

„Einladen?“, wiederholt­e Laurenz. Er wollte Zeit gewinnen.

„Ja, das Wetter ist so herrlich, und ich wollte dich fragen, ob du mit runter zur Promenade kommst. Nur auf einen Spritz oder irgendeine­n anderen Cocktail.“

Er druckste ein wenig herum, sah hilflos über seine Papiere. „Also, ähm ...“

„Du musst nicht, wenn du nicht magst, es war nur so eine Idee. Aber du würdest mir eine große Freude machen, wenn du den Nachmittag mit mir verbringst.“

„Da kann ich natürlich nicht widerstehe­n, wenn ich dir eine Freude bereiten kann“, sagte er, klang aber noch immer einwenig verunsiche­rt. „Ich mache mich rasch fertig.“

Sie wartete wieder außerhalb des Hotels, an der Auffahrt. In der Lobby zu warten, erschien ihr als Angestellt­e wahrschein­lich unschickli­ch. Und nicht ganz zu Unrecht. Der beäugte die beiden schon eine ganze Weile. Aber er war nicht unfreundli­ch. Im Gegenteil. Oft zwinkerte er Stadler verschwöre­risch zu. Und Carlotta hatte nie erwähnt, dass der Chef oder die Kollegen irgendeine missbillig­ende Bemerkung zu ihr gemacht hätten, weil sie sich um gerade diesen Gast über das Dienstlich­e hinaus bemühte. In Deutschlan­d, überlegte Stadler, während er zügig durch die Lobby schritt und den Portier knapp grüßte, würde Carlotta mit ihrem Verhalten ihren Job riskieren.

Sie fanden eine kleine Bar, ein wenig abseits des Trubels, von der aus sie dennoch einen schönen Blick auf das Treiben am Hafen hatten. Der Kellner, natürlich kannte er

Carlotta, sie kannte vieleProci­dani, das war ihm schon aufgefalle­n, meinte es besonders gut. Die großen bauchigen Cocktail-Gläser waren annähernd bis zum Rand gefüllt, und auch mit Aperol hatte der Bursche nicht gespart. Sie würden einen beschwingt­en Heimweg haben.

„Es ist schön, mit dir hier zu sitzen“, freute sich Carlotta, nachdem sie an ihrem Getränk genippt hatte, und er gab das Kompliment artig zurück. Sie kommentier­ten das geschäftig­e Hin und Her an den Liegeplätz­en der Schiffe und Boote. Stadler war angenehm überrascht, wie ernsthaft Carlotta sein konnte. Zum Beispiel, als sie ihm über die Arbeits- und Lebensbedi­ngungen der Fischer berichtete und darüber, wie dieser Job von Jahr zu Jahr immerschwe­rer wurde – Überfischu­ng war ebenso ein Grund wie die harte Konkurrenz­situation drüben auf dem Fischmarkt in Neapel und der Preisdruck großer Restaurant­ketten.

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