Thüringische Landeszeitung (Gera)
„Ich wollte die schnelle Wiedervereinigung“
Vor 30 Jahren Gerhard Neumann wird Sozialdemokrat in Gotha und 1990 in die Volkskammer gewählt. Danach ist er bis 2002 im Bundestag
Gerhard Neumann ist Jahrgang 1939. Er wird kurz vor dem Krieg in Berlin geboren. Doch seine frühe Kindheit verbringt er in Schlesien, muss dann mit seiner Mutter flüchten: über Tschechien kommen sie nach Altenburg. Die Mutter, die einst Dienstmädchen in Charlottenburg war, zieht den Sohn allein groß. Gerhards Vater bleibt im Krieg, wie man damals sagt.
Die Mutter kann in Gotha eine Kindergärtnerinnenausbildung machen und sich weiter qualifizieren, schließlich wird sie Schulleiterin in Gotha – und ist auch nach 1989 gut zu sprechen auf die DDR, die ihr so große Chancen bot. Gerhard Neutie mann dagegen entwickelt sich zum „kritischen Geist“– wird 1989 zum Mitbegründer der Sozialdemokra
„Die Volkskammer war eine Schule in Demokratie. In den Debatten haben wir gemerkt, wie unterschiedlich wir über die DDR gedacht haben.“Gerhard Neumann 1990 für die SPD im Bezirk Erfurt in der Volkskammer; drei Wahlperioden im Bundestag
am Traditionsstandort Gotha. Bald darauf ist er Volkskammerabgeordneter und statt sich im Herbst 1990 selbstständig zu machen, folgt er der Bitte aus der Partei und lässt sich für den Bundestag aufstellen. Drei Mal in Folge wird er gewählt, erringt 1998 den Wahlkreis sogar direkt. Seit 2002 ist er im Ruhestand und mit bald 81 Jahren noch immer kritischer Begleiter der SPD in seinem Ortsverein.
Zurück in die 1950er Jahre: Gerhard Neumann geht nach der Schule erst mal in die Produktion in einem VEB-Betrieb statt zum freiwilligen Dienst in der Kasernierten Volkspolizei. In Waltershausen, wo er kickt, macht er eine Lehre als Chemiefacharbeiter. Doch seine
Zukunft sieht er in der Pädagogik und in der Stimm- und Sprachheilkunde; heute besser bekannt als Logopädie. Von den 1960er Jahren an leitet er im Kreis Gotha die Beratungsstelle für Sprach-, Stimm- und Hörgeschädigte. In dem großen Kreis müssten zwei, später drei Personen in diesem Bereich tätig sein.
Doch Neumann ist oft allein, die Beratungsstelle unterbesetzt. Nicht nur Kindern hilft er, sondern auch Lehrern, deren Stimme bei Unterrichten leidet, oder Offizieren, denen der Kommandoton abhanden kommt… Und er lernt „zwischen den Zeilen zu lesen. Da findet sich viel Interessantes“, lautet ein Merksatz von ihm an seine Kinder. Im Herbst 1989 geht Neumann in die Augustinerkirche, um sich den Aufruf zur Gründung der Sozialdemokratie Ost (SDP) zu besorgen. In den Kirchenräumen in Gotha-West ist das erste Treffen, kaum mehr als ein Dutzend Menschen sind sie. Schon am 3. November gibt es einen Verband, vor Erfurt, Jena, Gera und Suhl. Sie dürfen in der Kantine des Haack-Verlags tagen.
Der Landesverband der zur SPD umfirmierten Partei wird am 27. Januar 1990 im Gothaer Tivoli gegründet. Willy Brandt kommt. Als es darum geht, einen Kandidaten für die Volkskammer aufzustellen, fragt Neumann erst andere. Die wollen nicht, auch weil nicht klar ist, was kommt. Neumann aber hat klare Vorstellungen: „Ich wollte die schnelle Wiedervereinigung“– schon bei der Gründung der SDP.
Die Volkskammer hat Neumann „als Schule der Demokratie“in Erinnerung. „Da hat man gesehen, wie unterschiedlich wir gedacht haben“, erinnert er an Debatten von alten und neuen Kräften. Ein „unheimlicher Druck“lastet auf den Abgeordneten, etwa als das Eichsfeld mit Abspaltung droht. Dabei hätte Neumann damals gerne „ein bisschen mehr Zeit für den Einigungsvertrag“. Mit Blick auf die vergangenen 30 Jahre sagt er: „Vieles hat sich zum Guten entwickelt. Aber die weltweite Ungerechtigkeit muss sich ändern. Und da wird sich auch einiges ändern. Das ist meine persönliche Meinung.“