Thüringische Landeszeitung (Gera)
„Carlotta“von Klaus Jäger
Dann kam sie wieder auf ihn zu sprechen. Auf das Schreiben und auf die Memoiren. Ob er sich denn für Lebensgeschichten interessiere. Eine Frage, die Stadler nur bejahen konnte. Vor allem gut geschriebene Biografien reizten ihn. Kriegserinnerungen hatte er bereits genauso konsumiert wie Biografien über Staatsmänner oder von Literaten und Musikern. Über John F. Kennedy, zu Kästner gab es auch reihenweise Literatur. Und über Wolfgang Amadeus Mozart musste man ja wohl Stadler gegenüber kein Wort verlieren, was freilich Carlotta nicht wissen konnte. Aber er galt zumindest im Bekannten- und Kollegenkreis als der Mozart-Experte schlechthin. Etwas über interessante Menschen zu erfahren, was nicht beziehungsweise nicht so detailliert in der Zeitung steht, oder etwas, das bei omnipräsenten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte das Leben bündelt – genau das machte das Lesen von Biografien für ihn so reizvoll.
Carlotta lauschte interessiert, Laurenz redete sich in Rage. Bis sie ihm die Hand auf den Arm legte und ihn unterbrach.
„Also Lorenzo, du willst deine Erinnerungen aufschreiben, das merke ich doch. Du musst es tun.“
Stadler stutzte. In der Tat, so hatte er es noch gar nicht gesehen. Auch die Beschäftigungen in den letzten Wochen liefen alle auf dieses Ziel hinaus: Stadler rechtfertigte sich vor sich selbst, dass er den Wunsch hatte, seine Memoiren zu verfassen. Und gerade eben übte er an Carlotta.
Er schaute sie aufmerksam und zugleich irritiert an. Wie klug sie doch war.
„Ich hatte dich nur gefragt, weil ich dir einen Tipp geben will.“
Stadler nickte. „Nur her damit“, sagte er. Er fühlte sich wohl und ihm gefiel, dass Carlotta ihre kleine Hand auf seinem kräftigen Unterarm mit dem weißblonden Flaum liegen ließ. Er genoss die Wärme ihrer Haut. „Siehst du den gutaussehenden Burschen da unten am Kai, der in dem dunkelgrünen Boot spricht?“
„Ja, ich sehe ihn.“
„Nun, das ist Mauro. Mauro Paolini. Ihm gehört hier ein kleiner Buchladen, gar nicht weit weg vom Hafen. Das heißt, eigentlich ist es eine Bar. Mit Buchladen. Mauro ist ein großer Buchliebhaber. Schau dir aber nicht nur die Regale in der Bar an. Da gibt es eine kleine Treppe, da kommst du in den nächsten Raum. Und dahinter liegt sein richtiger Bücherladen, äh, sein Antiquariat.“
„Das klingt ja wie ein verborgener Schatz“, sagte Stadler. „Es ist auch einer,“bestätigte Carlotta. „Wenn Mauro nicht von allein draufkommt, dann sagst du ihm einen schönen Gruß von mir, und er möchte dir doch bitte mal die Schatzkammer öffnen.“
„Die Schatzkammer?“
„Genau. Und dort findest du Lebensgeschichten oder Memoiren, was auch immer, in Hülle und Fülle.“
„Du machst es ja richtig spannend. Nun sag schon, was sind das für Lebensgeschichten?“
„Finde es doch einfach heraus.“Sie zwinkerte ihm listig zu.
„Da werde ich auf jeden Fall hingehen“, versprach Stadler.
Er betrachtete sie aufmerksam. Sie war nicht nur jung, sie war auch so schön, dass er sich immer wieder schmerzlich seines Alters bewusst wurde. Mit der ins Haar gesteckten Sonnenbrille und dem Lächeln, das eine Reihe kleiner und sehr weißer Zähne enthüllte, hätte sie ein Reklamebild für einen Urlaub auf Procida abgeben können, vor allem, wenn der Wind ihr Haar zerwühlte.
Stadler atmete tief durch. „Hast du Sorgen, Lorenzo?“Stadler lächelte.
„Ach du“, sagte er. „Du bist jung und du bist schön ...“
Sie lachte laut auf und warf den Kopf nach hinten. „Und du bist ein Charmeur“, rief sie.
„Du bist jung und du bist schön und du bist klug. Und du kennst so viele junge und schöne und kluge Männer. Aber mit mir altem Narren gehst du aus.“
So. Das musste mal raus, das brannte ihm auf den Nägeln.
„Ach, mein Lorenzo“, sagte sie. Ihre Hand, die bislang angenehm warm auf seinem Arm ruhte, begann ihn nun zu streicheln. Sanft, zärtlich fast. „Es ist schön, mit dir zusammen zu sein, willst du das denn nicht verstehen? Magst du mich denn gar nicht? Wenigstens ein bisschen?“
„Schon ...“Stadler druckste herum. „Aber“, fragte sie, „wie geht der Satz weiter.“Carlotta lachte wieder. „Sag schon.“
Stadler wusste nicht recht, wie er es formulieren sollte, ohne Gefahr zu laufen, entweder zu viel in ihre Beziehung hinein zu interpretieren oder sie gar zu verletzen. „Wir wissen schließlich nicht, wohin das führt.“
„Wir finden es heraus. Einverstanden? Lass es uns entdecken.“
Er nahm ihre Hand und lächelte sie an. „Einverstanden“, sagte er dann.