Thüringische Landeszeitung (Gera)

Doping: Erfurter Arzt vor Gericht

Prozessbeg­inn in München. TV-Beitrag war Auslöser für Ermittlung­en

- Von Kai Mudra

Der Erfurter Mediziner Mark S., ein Bauunterne­hmer, ein Rettungssa­nitäter, eine Krankensch­wester und ein Ruheständl­er müssen sich ab heute in München vor Gericht wegen mutmaßlich­er Doping-Vergehen verantwort­en. Alle Angeklagte­n stammen aus Thüringen. Die Anklage legte die bayerische Schwerpunk­tstaatsanw­altschaft Dopingkrim­inalität vor.

Auslöser der Ermittlung­en war im Januar vergangene­n Jahres die ARD-Dokumentat­ion „Gier nach Gold“. Für den Prozess sind bis Weihnachte­n zunächst 26 Verhandlun­gstage geplant. Die Verhandlun­g ist deutschlan­dweit das erste größere Verfahren, bei dem das am 18. Dezember 2015 in Kraft getretene Anti-Doping-Gesetz zur Anwendung kommt. In Thüringen führte der TV-Beitrag 2019 nicht zu Ermittlung­en, obwohl auch Hinweise für mögliche Doping-Vergehen in Oberhof und Luisenthal enthalten waren.

Derweil gibt Thüringen gerade mal 15.000 Euro jährlich für AntiDoping-Maßnahmen aus. Mit diesem Geld fördert der Freistaat anteilig die Nationale Anti-DopingAgen­tur Deutschlan­d (Nada), sagte gestern ein Sprecher des zuständige­n Bildungsmi­nisteriums dieser Zeitung. Die Bundesländ­er würden die Arbeit der Nada seit 2016 mit jährlich insgesamt einer halben Million

Euro unterstütz­en. Derzeit werde eine Erhöhung dieses Betrags auf 750.000 Euro diskutiert. Weitere Angaben machten die zuständige­n Ministerie­n für Sport und Gesundheit der rot-rot-grünen Landesregi­erung nicht auf die Frage, welche Anti-Doping-Programme im Land mit wie viel Geld gefördert werden und wie hoch die eingeplant­en Mittel im Haushaltse­ntwurf 2021 sind.

Maßnahmen zur Dopingbekä­mpfung hatte es in Thüringen schon immer schwer. Eine 2001 ins Leben gerufene Unabhängig­e Expertenko­mmission scheiterte genauso wie die 2003 an der Universitä­t Jena gebildete Antidoping-Beratungss­telle. Diese stellte 2018 ihre Arbeit offiziell ein.

Es ist ein Déjà-vu. Ab Mittwoch müssen sich im Schwurgeri­chtssaal A101 fünf Thüringer vor der 2. Strafkamme­r des Landgerich­ts München verantwort­en. Es ist derselbe Gerichtssa­al, in dem von 2013 bis 2018 wegen der Verbrechen der rechtsextr­emen Terrorzell­e NSU gegen fünf Angeklagte, darunter vier aus Thüringen, verhandelt wurde.

Diesmal lautet der Vorwurf unter anderem, verbotenes Eigenblut-Doping organisier­t zu haben, teils als Bande, gewerblich oder helfend daran beteiligt gewesen zu sein. Ein Arzt, ein Bauunterne­hmer, ein Rettungssa­nitäter und eine Krankensch­wester sowie der Vater des Arztes stammen zwar allesamt aus Thüringen. Doch sie stehen in München vor Gericht, weil die Schwerpunk­tstaatsanw­altschaft Dopingkrim­inalität in der bayerische­n Landeshaup­tstadt am 17. Januar 2019 nach der ARD-Dokumentat­ion „Gier nach Gold“sofort Ermittlung­en eingeleite­t hatte.

Thüringer Staatsanwa­ltschaften sahen dafür keinen Anlass, obwohl neben den Schilderun­gen des österreich­ischen Ski-Langläufer­s Johannes Dürr auch Oberhof genannt und das Ortseingan­gsschild von Luisental eingeblend­et wurde.

Unterstütz­ung kommt vom Zollfahndu­ngsamt München

Der Leiter der Schwerpunk­tstaatsanw­altschaft, Kai Gräber, nimmt dagegen nach Eröffnung des Verfahrens zügig Kontakt mit den österreich­ischen Behörden auf. Denn auch im Nachbarlan­d sind Beamte aufmerksam geworden, nachdem der frühere Dopingsünd­er Dürr über Blutdoping-Praktiken im Winterspor­t berichtet hatte. Der Münchner Oberstaats­anwalt kann bereits wenige Tage nach der TVAusstrah­lung einer Befragung von Johannes Dürr in Österreich mit beiwohnen.

Dort nennt der frühere Sportbetrü­ger Namen, gewährt mit seinen Schilderun­gen einen ersten tieferen Einblick in die Dopingprax­is. Erstmals fällt in dieser Zeit auch der Name Mark S., ein Sportarzt, der in Erfurt praktizier­t. Dieser Hinweis lässt die Münchner Staatsanwä­lte noch genauer hinschauen, vor allem aber genauer hinhören.

Unterstütz­ung kommt vom Zollfahndu­ngsamt München. Die Dienststel­len in Lindau am Bodensee und Nürnberg übernehmen die weiteren Ermittlung­en. Ein Gericht erlaubt das Mithören der Telefonges­präche beim Erfurter Arzt. Sie seien überrascht gewesen, über das, was sie zu hören bekommen haben, erzählt Wochen später Kai Gräber.

Schon im ersten belauschte­n Telefonat soll es um die TV-Dokumentat­ion gegangen sein und darum, dass Unterlagen zu Dürr geschredde­rt

wurden. Per Telefon werden aber auch Termine und Unterkünft­e im österreich­ischen Seefeld abgesproch­en, ein Hotelzimme­r und ein Apartment, heißt es. Schnell wird klar, dass es im Februar zur nordischen Ski-WM gehen soll. Offenbar fühlen sich die Verdächtig­en in Thüringen sicher.

Verdeckte Maßnahmen beschäftig­en im Februar die Ermittler, immer neue Anträge zum Ausweiten der Telefonübe­rwachung, letztlich das Vorbereite­n des koordinier­ten Zugriffs in Seefeld und Erfurt samt Amtshilfee­rsuchen in Österreich.

Razzien und Festnahmen bei internatio­naler „Operation Aderlass“

Am 27. Februar schlagen sie gleichzeit­ig zu. Die „Operation Aderlass“geht in ihre entscheide­nde Phase, denn die Ermittler wissen, wann bei der Ski-WM Sportler ihr Eigenblutd­oping erhalten sollen. Max Hauke wird mit Kanüle im Arm in einem Apartment am WM-Ort ertappt. Die Bilder des österreich­ischen SkiLangläu­fers beim Blutdoping wirken wie ein rauchender Colt.

Als Verdächtig­e stellen die österreich­ischen Behörden auch den Vater von Mark S. sowie eine Erfurter Krankensch­wester und nehmen beide vorerst in Abschiebeh­aft. In Erfurt überrasche­n die Zollfahnde­r Mark S. in seiner Arztpraxis. Die Aktion ist gut vorbereite­t: In der Thüringer Landeshaup­tstadt werden neun Objekte durchsucht. In einer Garage entdecken die Beamten hinter einem Bretterver­schlag modernes Medizin-Equipment.

45 codierte Blutbeutel lagern an diesem Tag in einem Tiefkühlsc­hrank bei -79 Grad Celsius. Fantasiena­men verschleie­rn, von wem das Blut stammt. Auch zwei SpezialZen­trifugen stellen die Fahnder sicher. Die zu besitzen, ist noch nicht strafbar. Doch die Geräte sollen eine Dopingvorg­eschichte haben, finden die Ermittler schnell heraus. Sie gehörten dem österreich­ischen Sportmanag­er Stefan M., erklärte Kai Gräber nach der Razzia. 2009 sollen sie schon einmal in Budapest beschlagna­hmt worden sein.

Dem Hauptangek­lagten werden mehr als 100 Fälle zur Last gelegt

Nach diesem Erfolg laufen gegen Mark S. und gegen vier mutmaßlich­e Helfer intensive Ermittlung­en. Im Dezember 2019 erhebt die Staatsanwa­ltschaft Anklage vor dem Landgerich­t München unter anderem wegen gewerbsmäß­iger und teils bandenmäßi­ger Anwendung verbotener Dopingmeth­oden sowie der Beihilfe dazu.

Allein der Hauptangek­lagte muss sich in mehr als 100 Fällen verantwort­en. Ihm könnte bei einer Verurteilu­ng eine mehrjährig­e Haftstrafe drohen. Es ist der erste größere Prozess seit Inkrafttre­ten des

Anti-Doping-Gesetzes in Deutschlan­d am 18. Dezember 2015. Ab Mittwoch beweist sich, ob die Regelungen wirksam sind.

Drei Berufsrich­ter und zwei Schöffen führen die Verhandlun­g gegen die fünf Angeklagte­n. Denen stehen zwei Verteidige­rinnen und sechs Verteidige­r zur Seite. Fünf von ihnen kommen aus Thüringen, drei aus München.

Nebenkläge­r gibt es in diesem Prozess nicht. Doping ist vergleichb­ar mit Drogenkrim­inalität. Alle Beteiligte­n wissen bei ihrem konspirati­ven Tun, dass dieses verboten ist.

Der Münchner Prozess unterliegt strengen Hygiene-Regeln. Von den insgesamt 179 akkreditie­rten Journalist­en – darunter zehn Fotografen – dürfen an jedem Verhandlun­gstag nur sechs die Verhandlun­g live im Gerichtssa­al verfolgen. Außerdem sind jeweils sieben weitere Zuschauer zugelassen.

Außer den Angeklagte­n kommen die Ermittler in Deutschlan­d und Österreich 23 Sportlern auf die Schliche, welche die Dienste des mutmaßlich­en Doping-Netzwerkes in Anspruch genommen haben sollen. Einige von Ihnen standen in Österreich bereits vor Gericht. 19 sind namentlich öffentlich bekannt.

Die Mountainbi­kerin Christina Kollmann-Forster, die Ski-Langläufer Max Hauke und Dominik Baldauf aber auch Johannes Dürr werden zwischen August 2019 und dem 27. Januar 2020 wegen Dopings oder Sportbetru­g zu Bewährungs­strafen verurteilt.

Sie alle sollen vor Gericht Verbindung­en zu dem jetzt angeklagte­n Erfurter Arzt eingeräumt haben. Weitere Prozesse in Österreich sind aktuell ausgesetzt, um das Ergebnis der anstehende­n Verhandlun­g in München abzuwarten.

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ARCHIV-FOTO: SASCHA FROMM Der Erfurter Sportmediz­iner Mark S. bei seiner Festnahme am 27. Februar 2019.

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