Thüringische Landeszeitung (Gera)
„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
Neben Stadler tauchte er auf. Mooslechner stand plötzlich neben dem Klavier und knallte seinen Maßkrug auf den Aufsatz.
„Bist du taub, oder was?“, brüllte er mit hochrotem Gesicht. „Den Schneewalzer sollst du spielen.“
Den Schneewalzer hatte Stadler schon als kleiner Junge spielen können. Das war nichts, was man in einem öffentlichen Spiel zum Besten gab. So unter Wert würde er sich nicht verkaufen.
Er machte eine kleine Pause, sammelte sich. Mooslechner grinste breit. Dessen Vater, den Stadler in Mooslechners Blickrichtung ausmachte, nickte seinem Spross anerkennend zu.
Laurenz beugte sich übers Klavier und griff wieder in die Tasten. Er hatte beschlossen, sich selbst zu begleiten, holte tief Luft und hub an: „Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig, heißa hoppsassa.“
Mooslechner hob den Maßkrug hoch und drehte sich langsam um die eigene Achse. „Jaaa“, grölte er.
Dann warf er den Bierkrug achtlos beiseite, ließ sich nach vorn fallen, griff hinter den Klavierdeckel und schlug ihn mit seiner ganzen Kraft und seinem ganzen Gewicht auf Laurenz Stadlers noch spielende Hände. Mit einem grellen Misston – dem letzten Aufbäumen der angeschlagenen Saiten und dem Brechen von zahlreichen Knochen in Stadlers Händen – hörte die Musik auf.
Eine Flamme des Schmerzes raste durch Stadlers Arme und explodierte in einem roten und violetten Sprühnebel hinter seinen Augen. Er sprang auf, wobei er sich, wie die Ärzte später rekonstruierten, noch einmal zwei Knochen brach und eine Sehne zerriss, weil sich Mooslechner noch immer mit seinen 92 Kilogramm auf den Klavierdeckel stützte und dieser daher nicht nachgeben konnte.
„Und Schluss mit Hoppsassa“, grölte Mooslechner.
Stadler schrie, und grell. langanhaltend
Da erschrak sich Mooslechner, blickte einen Augenblick verstört auf sein Werk. Sanft hob er den Klavierdeckel wieder an. Doch bevor Stadler seine zerschlagenen Hände zurückziehen konnte, besann er sich und schlug den Deckel erneut und mit aller Kraft zu. Und noch einmal. Dreimal sauste das helle Nussbaumholz auf die schon leblosen Hände von Stadler, bevor ein beherzter Gast den rasenden Mooslechner vom Klavier wegriss.
Stadler brach neben dem Klavierhocker zusammen. Er krümmte sich und steckte die zertrümmerten Hände in seinen Schoß zwischen seine Beine, bevor er das Bewusstsein verlor.
Vieles von dem, was sich noch im Wirtshaus sowie wenig später im Rettungswagen und auf der Intensivstation ereignete, musste sich Laurenz Stadler nach Tagen und Wochen berichten lassen. Zum Beispiel, dass es nach dem Vorfall im Wirtshaus eine richtiggehende Schlägerei mit drei Verletzten gegeben hat. Einer davon war Mooslechner selbst gewesen, dem man einen Zahn ausgeschlagen hat. Auch sein Vater hat Prügel bezogen, aber das war alles nichts im Vergleich zu dem Hauptereignis des Abends: dem brutalen Zermalmen der Finger eines jungen und hoffnungsvollen Pianisten, dem Zermalmen des künftigen Lebens eines hoffnungsvollen Pianisten. Es hat Jahre gedauert, bis sich Stadler an die Forderung nach dem „Schneewalzer“erinnern konnte. Sein Trauma war so schwer, dass sein Gehirn die Ereignisse des Abends einfach ausgeblendet hat.
Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass das Klavier im Wirtshaus verstimmt war. Aber inzwischen war dieser „Schneewalzer“ein Signal für sein Gehirn, und wann immer er ihn hörte, flammte der Schmerz in beiden Händen auf, sodass sie sich regelrecht verkrümmten.
Das Erste, was er nach seiner Bewusstlosigkeit wahrnahm,war eine Schwesternschülerin, nur wenig älter als er selbst, die ihn mit Brei fütterte. Das war auf der Intensivstation des Klinikums, nachdem man ihn aus dem künstlichen Koma geholt hatte, in dem er drei Tage gelegen hat. Nicht wegen der Lebensbedrohlichkeit seiner Verletzungen, vielmehr hatten die Ärzte gefürchtet, dass es wegen der starken
Schmerzen Komplikationen mit dem Herz-Kreislauf-System geben könnte. Und so viel Morphium, um ihn schmerzfrei zu spritzen, hätte sein Organismus gar nicht verkraftet. Erst nach weiteren quälenden Tagen, die er im Dämmerzustand starker Schmerzmedikamente verbrachte, erfuhr Laurenz Stadler, was sich unter den dicken Verbänden seiner beiden fixierten Unterarme verbarg: Trümmerbrüche in acht Fingern und der kompletten Mittelhand.
An dem Tag, an dem er es erfuhr, hat er die Schwestern gebeten, seine Mutter wegzuschicken, weil es ihm nicht gut ginge. Sie kam trotzdem – sie war seine Erziehungsberechtigte und er noch nicht volljährig.
„Weißt du Bescheid?“, fragte er, die Verbände anblickend.
Seine Mutter knetete nur immerfort ihr Taschentuch und weinte. Ja, offenbar wusste sie Bescheid, denn genau das hatte sie bei den letzten Besuchen auch schon getan.