Thüringische Landeszeitung (Gera)
Unter uns gesagt Die liebe Verwandtschaft
Liebe Leserinnen, liebe Leser! Eine langjährige Freundin hat mir deswegen jüngst ihr Leid geklagt, wohl wissend, dass guter Rat schwer ist. Sie hat einen – nun sagen wir – schrägen Vogel im näheren Umfeld. Früher fand sie den lieben Onkel wegen seiner Verhaltensoriginalität ganz lustig. Er mischte früher jede Familienfeier auf durch seine derben Einwürfe.
Es hieß immer – und da war er längst 40: Er ist halt noch in der Spätpubertät. Das wächst sich aus. Aber, sagt seine Nichte, das war ein Irrtum. Was früher noch als kleine Provokation durchging, ist mittlerweile verschwörungsgläubig, böse und lästig. Der gute Mann habe es sich inzwischen selbst mit den
Wohlmeinenden verscherzt. Weil er nicht mehr so viel Gehör findet in seinem realen Umfeld, habe er seine Aktivitäten ins Netz verlegt und dort wohl einen freudig aufputschende Gemeinde gefunden.
Na gut, denke ich, so ist das heutzutage. Was früher am realen Stammtisch noch auf Gegenrede stieß, ist inzwischen in die Untiefen abgetaucht und erhält viel Beifall. Von „na gut“könne keine Rede sein, sagt die Freundin, weil der Mann realen Personen in kaum sozial erträglicher Form gegenübertrete. Sie werde darauf angesprochen, weil mancher hoffe, dass sie noch direkten Zugang zu ihm habe. Das aber sei – leider – nicht der Fall.
Die Nichte des Mannes ist unglücklich über diese Entwicklung. Und sie ist hilflos. Was tun? Sie schreibt ihm immer mal Postkarten mit einem lieben Gruß, um die Verbindung nicht ganz abreißen zu lassen. Sie schickt ihm Blumen zum Geburtstag. Vielleicht, sagt sie, braucht er irgendwann Hilfe. Dann soll er wissen, dass sie weiterhin für ihn da ist. Schließlich ist er Verwandtschaft.